Wie bei der Klimaerwärmung hört die Politik auch bei Corona nicht auf die Wissenschaft. Mit der aktuellen Politik verspielt die Schweiz nicht nur ihre Glaubwürdigkeit im In- und Ausland, sondern wird zum internationalen Symbol dafür, Menschenleben wirtschaftlichen Interessen unterzuordnen.
Das Coronavirus und die Klimaerwärmung haben mehr gemeinsam, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Obwohl wir in diesem Jahr fast täglich irgendwelche Klima-Schocks in den Medien gelesen haben, (38 Grad in Nordpolregion, wärmster September ever, heissestes Jahr ever etc.) wird noch immer Politik für Autofahrer und die Flugbranche gemacht.
Grosse Teile der Politik zucken nur mit den Schultern, wenn sie Klimakrise hören. Welche Krise? Die Sonne scheint doch, also ist doch alles bestens. Weshalb also mit Klimamassnahmen die Wirtschaft «schädigen?
Und beim Coronavirus? Obwohl bald 6500 Menschen in der Schweiz am Virus gestorben sind, wird noch immer Politik gemacht für Aktionäre, Grossunternehmer und den Wintertourismus. Politik für die Wirtschaft. Die Toten? Egal, solange dabei die Staatsfinanzen nicht bedroht sind. Auslastung der Spitalbetten auf den Intensivstationen? Egal, wir haben schliesslich eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt.
Absurd ist auch die derzeitige Diskussion über die Sinnhaftigkeit der 19 Uh-Sperre, Skifahren, Weihnachten und Silvester. Da sterben Menschen und die Schweiz redet davon, Weihnachten zu «retten» und Skilifte in Betrieb zu halten. Ernsthaft?
Hätte der Bundesrat bereits im November das Land mit einem Lockdown rasch für zwei Wochen in einen Kurzurlaub geschickt, Weihnachten wäre wahrscheinlich «gerettet». Und das Leben hunderter Menschen wohl auch. Ausser der SVP, dem Gewerbeverband und dem mutlosen und um die Staatsfinanzen besorgten Bundesrat, hat ein Lockdown seit Oktober eigentlich jedem rational denkenden Menschen eingeleuchtet.
Die Folge dieses Nichtstuns und Abwartens ist, dass jetzt weder Weihnachten noch Menschenleben gerettet sind, dafür aber ein bisschen die Wirtschaft und die Staatsfinanzen für 2020. Von Festtagen kann keine Rede sein. Das Fest ist abgesagt, während die Intensivbetten und Krematorien überfüllt sind.
Man kann es nicht anders sagen: Die «Erfolgsgeschichte» der Schweiz ist 2020 definitiv am Ende. Die aktuelle Situation zeigt, dass Reichtum und Einbildung, angeblich stets zu den Besten zu gehören, nicht ausreichen. Zu lange hat sich die Schweiz damit gebürstet, «speziell», «auf höherem Niveau» oder einfach auf einem «Sonderweg» zu sein, wenn es darum ging, sich von anderen Ländern abzuheben.
Jetzt ist die Schweiz nur noch «abgehoben» bei der Anzahl Tote pro Million Einwohner. Das Image im Ausland dürfte ramponiert sein. Während praktisch alle Nachbarländer einen Lockdown verhängt haben und das Hudi-Gaudi-Skifahren verboten haben, geht die Schweiz einmal mehr einen «Sonderweg». Schliesslich ist die Schweiz reich und hat das Skifahren erfunden.
Gestört scheint derzeit auch die Kommunikation der Behörden. Einerseits ist da die Kakophonie mit all ihren unterschiedlichen Handlungsempfehlungen an die Bürger:innen. Täglich wird etwas anderes kommuniziert, die Menschen verlieren den Überblick. Der Bundesrat hat es versäumt, klar zu kommunizieren und sagen, was in den kommenden Wochen passiert. Das strategische langfristige Denken einer ganzen Regierung befindet sich gewissermassen seit Wochen in einem Lockdown.
Es verwundert nicht, dass der Schweizer Bundesrat Krisenkommunikation nicht beherrscht. Schliesslich ist die Schweiz seit mindestens 120 Jahren von ernsthaften Krisen verschont geblieben oder sie machte sich einfach auf einem «Sonderweg» auf und davon. Nicht nur haben die Nazis die Schweiz im Zweiten Weltkrieg mit Bomben und Gräueltaten «verschont», auch bei der Aufarbeitung der nachrichtenlosen jüdischen Vermögen in den 1990er-Jahren ist die Schweiz glimpflich mit einem blauen Auge davon gekommen. Und nach der Finanzkrise 2008/2009 konnte das kleine Land mal eben schnell die eigene «systemrelevante» Grossbank UBS mit Milliarden «geretten». Alles kein Problem, «we are the best».
Jetzt, wo die Corona-Zahlen immer weiter steigen und der Druck aus der Bevölkerung und der Science Task Force nach einem Shutdown immer grösser wird, könnte endlich Bewegung in die Sache kommen. Sollte der Bundesrat am Freitag die Wirtschaft mit einem zweiten Lockdown herunterfahren, wäre das die Notbremse in letzter Sekunde. Falls kein Lockdown kommt, wäre das buchstäblich fatal und fahrlässig. Weitere tausende Tote wären die Folge.
Es wird Zeit, dass die Politik endlich auf die Wissenschaft hört. Auch bei der Klimaerwärmung warnt die Wissenschaft seit Jahren. Passiert ist auch dort bisher nicht viel, oder viel zu wenig. Insofern haben Klimapolitik und Coronapolitik mehr gemeinsam, als man denkt.