Die aktuelle Krise hat viele Parallelen mit dem Untergang der Titanic vor 108 Jahren. Geringverdienende auf dem unteren Deck sorgten dafür, dass die Gutbetuchten in den oberen Decks ihren Privilegien nachgehen konnten. Buchstäblich bis in den Untergang. In der Coronakrise braucht es genug Rettungsboote für die Menschen auf den unteren Decks. – Von Philipp Bürkler
Die im April 1912 im eiskalten Wasser vor Neufundland gesunkene Titanic galt als Wunderwerk der Technik. Ein britisches Schiff, das in seiner Grösse und luxuriösen Ausstattung von der Harland & Wolff-Werft gebaut wurde, um «die Launen der Natur zu zähmen». Obwohl die Werft und auch die Reederei White Star als Betreiberin des Schiffs einige Untergangsszenarien in den Schubladen hatten, wurde das Schiff bei der reiselustigen reichen Oberschicht als «unsinkbar» vermarktet. Während eine durchschnittliche amerikanische Familie auf heutige Verhältnisse umgerechnet mit etwa 800 Dollar im Jahr durchkommen musste, zahlten nur schon Passagiere der zweiten Klasse mindestens diesen Betrag für ein Ticket. Die bei der Oberschicht begehrte Erstklasse-Suite kostete damals rund 4’300 Dollar, was heute mehr als 100’000 Dollar entspricht.
Für die Steuerung des mehr als 52 000 Tonnen schweren Stahlkoloss wurde der damals 62-jährige E. J. Smith als Kapitän auserkoren. Smith war in gehobenen Kreisen sehr angesehen und auch unter seinem Spitznamen «Kapitän der Millionäre» weit herum bekannt. Seine Hauptaufgabe – neben der Navigation über den Atlantik – bestand darin, die exklusiven Erwartungen und Wünsche der reichen Oberschicht an Bord zu erfüllen. Die Fahrt sollte für die wohlhabenden Damen und Herren schliesslich so angenehm und bequem verlaufen wie nur möglich.
Daher verwundert es auch nicht, dass «Kapitän Millionär» rund eine Stunde vor der Kollision mit dem Eisberg in der Nacht vom 14. April 1912 an einem Dinner teilnahm, das zu seinen Ehren ausgerichtet wurde. Während Smith und Bruce Ismay, der Geschäftsführer der White Line, sich bei gutem Essen und einigen Gläsern Champagner bei Laune hielten, ordneten sie kurz zuvor an, die Titanic auf Höchstgeschwindigkeit umzustellen. Man wollte einen Tag früher als geplant in New York sein. Es sollte das Medienereignis des Jahres werden, die Ankunft der Titanic im Hafen des Big Apple.
Die Party des glamourösen und feuchtfröhlichen Abendessens im Salon nahm ihren Lauf und die Titanic ihren unausweichlichen Kurs auf den Eisberg. Der diensthabende Funker an Board hatte «keine Zeit» für Eisbergwarnungen, die bereits Stunden zuvor über Funk hereinkamen. Er war damit beschäftigt, die ankommenden Telegramme für Passagiere der ersten Klasse zu bearbeiten. Ja, wer es sich leisten konnte, hatte bereits 1912 «Internet» auf Reisen mit dabei und konnte so mit Verwandten und Geschäftspartnern auch aus den tiefen des Atlantiks kommunizieren.
Dann plötzlich: Peng! Crash! Pow! Ein Rumpeln geht durch den Speisesaal bis in die untersten Decks und den Maschinenraum. Die Titanic traf den Eisberg auf ihrer Steuerbordseite und wurde innerhalb von nur zehn Sekunden an einem fast 100 Meter langen Abschnitt ihres Rumpfes beschädigt. Es drang sofort doppelt soviel Wasser ein, wie das Monstrum eigentlich bei einer sowieso undenkbaren Katastrophe hätte aufnehmen können, ohne zu sinken. Nach anfänglichem Kleinreden der Havarie unter den Passagieren, der Besatzung und dem Kapitän, setzte bei den Menschen an Bord der Schock ein und schliesslich die Einsicht der Realität. Das Schiff sinkt.
Peng! Crash! Pow! Ein Rumpeln psychologischer Art ging vor einigen Tagen auch durch die Schweiz und Europa. Auch hier galt das Unmögliche, das Undenkbare als unmöglich und undenkbar. Nur schon die Vorstellung einer Pandemie war grotesk. In früheren Jahrzehnten wurde die Möglichkeit einer Pandemie von der Politik und dem Bundesrat – obwohl Pandemiepläne in den Schubladen lagen – wohl eher als unwahrscheinlich oder gar als ein Szenario beurteilt, das höchstens dem fantasievollen Geist eines dystopisch veranlagten Science Fiction-Autors in Hollywood entspringt und nicht einer eventuellen zukünftigen Realität. Realitätsblindheit oder naives Vertrauen darauf, der Ernstfall werde sowieso nie eintreten, mögen die Gründe sein, weshalb der Schweizer Bundesrat noch 2006 die Übernahme des einzigen Schweizer Impfstoffproduzenten Berna Biotech durch das niederländische Biotech-Unternehmens Crucell nicht verhindert hat.
Als das Virus Ende Dezember 2019 in China erste Opfer forderte, war in Europa noch immer alles entspannt. «Dieses chinesische Virus» wird schon nicht zu uns kommen, Sars hat es vor 18 Jahren ja auch nicht geschafft, so die noch lange landläufige Meinung in Politik und Bevölkerung. Warum soll es also dieses mal anders sein? Das Dinner auf Deck ging weiter. Zugegeben, auch ich war um die Jahreswende und anfangs Januar 2020 noch nicht wirklich besorgt. Wie naiv aus heutiger Sicht.
Dann auf einmal Italien: Der Eisberg war schon viel näher. Langsam stellt sich ein mulmiges Gefühl ein. Aber die Party ging für viele Menschen in der Schweiz oder Deutschland unverblümt weiter, sogar noch, als Italien die Schulen dicht machte und das öffentliche Leben stilllegte. Spätestens da hätten die Regierungen auch nördlich des Gotthards reagieren müssen.
Die Schockphase kam für die meisten Menschen erst, nachdem auch in der Schweiz das Leben «verlangsamt» wurde, wie es Bundesrat Alain Berset an der Pressekonferenz vom 13. März nannte, als den Menschen vom Bundesamt für Gesundheit eindringlich geraten wurde, zuhause zu bleiben. Aber selbst da ging für viele das Wochenende mit Party weiter. Die Reaktion der Leute auf die Aufrufe des Bundesrates schienen etwa so merkwürdig, wie die Antwort, wenn man Menschen mit der hypothetischen Frage konfrontiert, was sie tun würden, wenn sie wüssten, sie hätten nur noch 24 Stunden zu leben: «Keine Frage, nochmals richtig Partymachen».
Jetzt, nach knapp drei Wochen Lockdown, als die meisten Menschen endlich den ernst der Lage erkannt haben – sei es aus Einsicht und Vertrauen auf die Wissenschaft oder wegen der bedrohlich ansteigenden Anzahl Todesfälle – fordern die «Strategiegruppe» der SVP sowie einige Unternehmer das Ende des Lockdowns und die Rückkehr zur «Normalität».
Erstens wird es diese «Normalität», wie wir sie vorher gekannt haben, nicht mehr geben. Die Welt wird eine andere sein. Im besten Fall wird sie sozialer und empathischer und mehr auf das Gemeinwohl ausgerichtet sein. Soziale Strukturen wie Kollaboration, Nachbarschaftshilfe sowie Fürsorglichkeit, Sensitivität und Empathie dürften wichtiger werden, sollten die aktuellen Solidaritätsbekundungen unter den Menschen tatsächlich nachhaltig und ernst gemeint sein. Davon gehe ich aus.
Im schlechteren Fall gibt es mehr Misstrauen und die Unterschiede zwischen reich und arm vergrössern sich noch extremer. Dann würden wir vielleicht bald in einer Gesellschaft leben, in der wir ständig Angst haben müssen vor anderen Menschen, weil sie uns vielleicht mit dem Virus anstecken könnten? Könnten wir in einer solchen Zukunft überhaupt wieder unter Menschenmassen feiern und zusammen sein? Im Fussballstadion, am Open Air oder an der Streetparade? Dieses Leid und das Misstrauen dürften umso grösser werden, wenn Pflegekräfte, Kassiererin, Verkäufer, Selbständigerwerbende, Kulturproduzentinnen oder Coiffeusen jetzt nicht die nötige finanzielle Hilfe durch den Bund oder andere Organisationen erhalten. Dann dürften auch Depressionen, Selbstzweifel, Stress, Gewalt sowie Hoffnungslosigkeit noch häufiger auftretende soziale Phänomene sein als sie sich bereits unter den bisherigen wirtschaftlichen Bedingungen leider seit Jahren vermehrt bemerkbar machen.
Zweitens werden durch die marktgetriebene Forderung nach einer Rückkehr zur «Normalität» Menschenleben Wachstum und Profit untergeordnet. Die Leute – vor allem solche in Berufen mit tieferen Löhnen – sollen arbeiten gehen, damit der Wirtschaftsmotor für die Wohlhabenden weiter brummt. Die Menschen sollen arbeiten gehen, egal ob es gut ist für ihre Gesundheit oder nicht. Die «Normalos» der Unterschichten sollen arbeiten gehen, damit die Vermögenden ihre bisherige «Normalität» so weiterleben können wie sie es sich wünschen. Ohne Rücksicht auf ihre Mitmenschen. Ohne Rücksicht auf die Natur und Umwelt. Mit Vollgas in den nächsten Eisberg. Das Schiff hat ja auf der anderen Seite noch einen zweiten Rumpf.
Was ist ein Menschenleben wert? Diese Frage wurde auf der Titanic eindeutig beantwortet. Das Leben einer wohlhabenden Person zählte auf dem Oberdeck mehr als das eines Arbeiters oder eines Matrosen im Unterdeck. Um den Strom für den Funkverkehr aufrecht zuhalten, schaufeln im Maschinenraum die Arbeiter selbst dann noch Kohle in den Ofen, als das Schiff bereits kurz vor dem Auseinanderbrechen war. Und einfache Küchenangestellte warfen den meist gut betuchten Leuten in den unterbesetzung Rettungsbooten belegte Brote als Proviant zu. Die Menschen mit dem geringsten Lohn haben gewissermassen bereits vor mehr als 100 Jahren dafür gesorgt, dass die Vermögenden sogar in der Not in ihren Rettungsbooten nicht auf ihre Privilegien verzichten mussten.
Während 63 Prozent der wohlhabenden Passagiere auf der Titanic einige Stunden später – zwar etwas unterkühlt aber wohlbehütet – wieder aus den Rettungsbooten steigen konnten, überlebte nur einen Viertel der Angehörigen der unteren Schichten.
Damit nicht genug: Die hässliche Fratze des profitgierigen kapitalistischen Unternehmers, die Beteriberfirma Withe Line, entliess nach der Titanic-Katastrophe alle ihre überlebenden Angestellten sowie die gesamte Besatzung. Dadurch sparte sich die Reederei sämtliche Löhne und Rentenzahlungen in Höhe von Hunderttausenden von Dollars.
Sorgen wir dafür, dass es dieses mal für alle Menschen mit geringeren Einkommen und höherem sozialen Status genügend finanzielle und soziale Rettungsboote gibt. Und sorgen wir dafür, dass diese Menschen endlich die nötige Anerkennung erhalten.
Pingback: Resetter: Best of 2020 – Der Jahresrückblick - RESETTER