Interview: «Europa geht offenen Auges in eine humanitäre Katastrophe»

Die Platzverhältnisse in Asylunterkünften sind eng. Das Potenzial einer Ansteckung mit dem Virus ist gross. Im Bild eine Unterkunft mit ivorischen Flüchtlingen in Tel Aviv im Jahr 2018. Bild: Wikimedia
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Das Coronavirus und die Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen sind auf allen Newskanälen ein Dauerthema. Das Schicksal tausender geflüchteter Menschen ist jedoch fast vollständig aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Während Medien und Öffentlichkeit den Fokus auf das Coronavirus richten, droht an den EU-Grenzen eine humanitäre Katastrophe. Alicia Giraudel, Verantwortliche Asyl und Menschenrechte bei Amnesty Schweiz, gibt im Interview Auskunft über die aktuelle Situation. – Von Philipp Bürkler

Resetter: Welche Auswirkungen hat die derzeitige ausbleibende mediale Aufmerksamkeit für die Arbeit von Menschenrechtorganisationen wie Amnesty International?

Alicia Giraudel: Es ist wahr, dass die Aufmerksamkeit der Medien fast ausschliesslich auf die Coronakrise gerichtet ist und andere Themen an Gewicht verlieren. Dies führt natürlich dazu, dass die Gesellschaft weniger Informationen zur Situation der Flüchtlinge und MigrantInnen sowohl in der Schweiz als auch im Ausland erhält. Hinzu kommt, dass es auch für JournalistInnen immer schwieriger ist, sich vor Ort zu begeben und über Missstände zu berichten. Es ist deshalb umso wichtiger für Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, die überall auf der Welt vertreten sind, sich weiter für Flüchtlinge und MigrantInnen, die in dieser Krise besonders verletzlich sind, einzusetzen,Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und Druck auf die Regierungen auszuüben. 

Zurzeit reden alle von Solidarität, meinen damit aber vor allem Hilfe für Menschen die in der Schweiz leben. Wie verändert sich durch die Krise die Solidarität gegenüber Menschen auf der Flucht?

Der Fokus der Regierungen liegt auf dem Schutz der eigenen der Bevölkerung und es gibt nur wenig Solidarität gegenüber Menschen im Ausland. Der Bundesrat hat es bislang nicht geschafft, unbegleitete Minderjährige aus den Horror-Lagern in die Schweiz zu holen, trotz des Versprechens von Bundesrätin Karin Keller-Sutter. Gleichzeitig aber werden in einer historischen Aktion Dutzende von Sonderflügen bereitgestellt, um Schweizer Reisende zurückzuholen. Da stellt sich schon die Frage der Prioritäten: Ist es wirklich unmöglich, die Jungendlichen zu ihren Familienangehörigen in der Schweiz zu holen oder fehlt es am Willen, respektive am Geld und den Ressourcen, die man bereit ist, dafür einzusetzen.

Der Schweizer Bundesrat sowie andere Regierungen sind derzeit mit der Bewältigung der Coronakrise und den wirtschaftlichen Folgen beschäftigt. Können Schutzsuchende in diesen Zeiten überhaupt noch auf einzelne Staaten zählen? Oder sind sie immer mehr sich selber überlassen?

Es wird immer schwieriger für Schutzsuchende Asylanträge zu stellen. Fast alle europäischen Staaten haben ihre Grenzen geschlossen, so auch die Schweiz. Auch in Zeiten der Pandemie müssen das Recht auf Asyl und das Non-Refoulement-Gebot respektiert werden.

Die Coronakrise ist ein globales Problem. Müsste nicht endlich auch das Thema Flucht global, oder zumindest gesamteuropäisch angegangen werden? Tut sich da was?

Es gibt Initiativen wie den globalen Pakt für Flüchtlinge der UNO. Er baut auf bestehendem internationalem Flüchtlingsrecht auf. Der Pakt ist ein Appell zur Förderung internationaler Zusammenarbeit im Flüchtlingsschutz. Er ist jedoch rechtlich nicht bindend. Auf europäischer Ebene gibt es die Dublin-III-Verordnung, die die Verteilung der Asylsuchenden auf die Mitgliedstaaten regelt. Durch die Anwendung gleichwertiger Schutzstandards sollte es für die Schutzsuchenden keine Rolle spielen, wo sie Asyl beantragen. Leider ist dies nicht der Fall. Zudem versagt das System in Staaten an der EU Aussengrenze, die nicht in der Lage sind, allen Menschen, die an ihren Grenzen ankommen, Schutz zu bieten. Gleichzeitig ignorieren die anderen Regierungen ihre Aufrufe nach Hilfe bei der Aufnahme von Asylsuchenden. Deshalb braucht es dringend eine Reform des Dublin Systems und die Einführung eines fairen Verteilungsschlüssels.

Welche Rolle müsste die Schweizer Regierung jetzt übernehmen?

Die Schweiz sollte schnellstmöglich ein grosses Kontingent von Flüchtlingen von den griechischen Inseln aufnehmen. Amnesty hat diesbezüglich zwei Petitionen lanciert. Die Rückführung von Asylsuchenden, insbesondere nach Griechenland, sollte ausgesetzt werden. Sämtliche Asylverfahren in der Schweiz sind bis auf weiteres zu sistieren. Die Schliessung der Schweizer Grenzen darf keinesfalls dazu führen, dass Asylsuchenden eine wirksame Möglichkeit zur Beantragung von Asyl verweigert wird. Da die Wegweisung aus der Schweiz zurzeit nicht vollzogen werden kann, sollten sämtliche sich in Ausschaffungshaft befindlichen abgewiesenen Asylsuchenden, Migranten und Migrantinnen unverzüglich aus der Ausschaffungshaft entlassen werden.

Wie sieht die Perspektive für Menschen auf der Flucht für die kommenden Monate aus?

Vor allem die Asylsuchenden und Flüchtlinge, die in grossen Lagern wie beispielsweise in Griechenland, der Türkei, Syrien, Libyen oder Kenia feststecken, werden unter dieser Krise leiden. Sollte sich das Coronavirus in den Flüchtlingslagern ausbreiten, wären Unzählige der Krankheit hilflos ausgesetzt. Europa geht offenen Auges in eine humanitäre Katastrophe riesigen Ausmasses auf den griechischen Inseln. Die Situation ist bereits jetzt katastrophal. In den Lagern auf den Inseln leben nicht weniger als 37’000 Menschen, darunter 5’200 unbegleitete Minderjährige, in Strukturen, die für die Aufnahme von 6’095 Personen ausgelegt sind. Auf Lesbos sind 19’000 Menschen in einem Zentrum eingepfercht, das für 2’800 Personen ausgelegt ist. Konkret bedeutet dies: fehlender Zugang zu Wasser (eine Wasserstelle für 1300 Personen), kein Bettzeug, keine Unterkünfte, nur Zelte, kein Zugang zur Gesundheitsversorgung und Pflegepersonal, eingeschränkter Zugang zu Lebensmitteln oder keine Müllabfuhr. Mit anderen Worten: Wenn nichts unternommen wird, wird das Coronavirus die Lager erfassen. Flüchtlinge und Asylsuchende haben nicht die Mittel, um Schutzmassnahmen wie Isolation, Social Distancing oder Händewaschen einzuhalten. Die Lager laufen Gefahr, ohne ärztliche Hilfe in Quarantäne gesetzt zu werden, es drohen Hunderte oder gar Tausende von Toten.

Die UNO-Menschenrechte werden dieses Jahr 70 Jahre alt. Ist die aktuelle Krise eine Chance, dass Menschenrechte in Zukunft wieder vermehrt in den medialen und öffentlichen Fokus rücken?

Wir feiern dieses Jahr den 75. Jahrestag der Vereinten Nationen, eine Organisation die viel zum Schutz der Menschenrechte beigetragen hat. Durch die von den Regierungen zur Eindämmung der Pandemie angeordneten einschneidenden Massnahmen, die sich stark auf die Menschenrechte wie Bewegungs-, Meinungs-, und Religionsfreiheit auswirken, wird vielen Menschen bewusst, dass sie ihre Freiheiten für selbstverständlich gehalten haben. Diese Krise kann unserer Gesellschaft auch einen Denkanstoss geben, um sich verstärkt mit Fragen rund um die Grundrechte und den Schutz der Verletzlichen auseinanderzusetzen.

 
Alicia Giraudel ist Juristin und Flüchtlingskoordinatorin bei Amnesty Schweiz.

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