Gefährliche Umdeutung von Demokratie durch «Corona-Gegner»

Teilnehmer_innen an der «Anti-Corona-Demo» am letzten Samstag in Bern. Bild; Twitter, @mueller_adrian
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Esoteriker, Verschwörungstheoretiker, Ökofaschisten, Rechtsextreme und sogar Familien mit Kindern stehen buchstäblich Seite an Seite und «kämpfen» für die gleiche Sache. Obwohl diese Leute angeblich für Demokratie demonstrieren, haben sie das Konzept von Demokratie offensichtlich nicht verstanden. Gefährlich ist dabei, dass sie versuchen, Demokratie für ihre eigenen Zwecke umzudeuten. – Philipp Bürkler

Die Coronakrise spült buchstäblich gesellschaftlich fragwürdige Gestalten und Weltanschauungen an die Oberfläche: Menschenfeindliche Gesinnungen, ein krudes Politik- und Demokratieverständnis, sowie verschrobene und realitätsfremde Weltbilder, die zuvor nur in entsprechenden Blasen im Netz oder in Telegram-Gruppen ausgetauscht wurden, werden durch die «Anti-Corona-Proteste» nun auf den Strassen sichtbar.

Das Neue an diesem Phänomen: Es geht hier nicht mehr um typische linke oder rechte Anliegen. Eine Abgrenzung gibt es nicht. In dieser wirren Querfront stehen Rechtsextremisten, Antisemiten, Esoteriker, Ökofaschisten, Identitäre, New Age-Spinner, linke Pseudo-Hippies, libertäre Staatsfeinde und Verschwörungstheoretiker mit Aluhut auf dem Kopf buchstäblich Seite an Seite. Unabhängig ihrer politischen Ideologie eint diese Leute der Hass auf «den Staat», «die Eliten» und die Wissenschaft.

Traurigerweise sind unter den Demonstranten auch Familien, die ihre Kinder mitnehmen und diese dadurch instrumentalsieren, oder auch Leute die grundsätzlich zwar keine böswilligen Absichten haben, sondern ihren (vielleicht teilweise berechtigten) Frust zum Ausdruck bringen wollen. Aber auch sie – ob bewusst oder unbewusst – tragen durch ihre Teilnahme dazu bei, die menschenverachtenden und antidemokratischen Anliegen zu stützen.

Die grosse Umdeutung von Demokratie und Rechtsstaat

Die Einsicht und das Verständnis zu Abstandsregeln und Schutzmassnahmen ist bei solchen Leuten, die mehrheitlich das Virus leugnen oder relativieren, natürlich schwer zu erwarten. Könnten sie differenziert denken und abstrahieren, stünden sie schliesslich nicht auf der Strasse. Die Nichteinhaltung des physischen Abstandes sowie die offensichtliche Gleichgültigkeit gegenüber der Gesundheit aller Menschen der Gesellschaft, ist das Eine.

Das Andere – aber nicht weniger gefährliche dieser Protestbewegung – ist ihr Versuch einer grossen Umdeutung von Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat und Wissenschaft. Diese Leute sehen sich als die einzig «wahren Demokraten» die sich Sorgen machen um die angebliche Einschränkung von Grundrechten wie Freiheit und Demokratie.

Dass es sich bei den Einschränkungen des Schweizer Bundesrates oder der deutschen Bundesregierung von Angela Merkel nur um temporäre Massnahmen zum Wohl der Gesundheit aller Menschen handelt, scheint dabei niemand wirklich zu interessieren. Auch, weil es nicht in ihr Welltbild passt, wonach Regierungen grundsätzlich «Feinde» oder sogar «illegal» sind.

Diese Leute ärgern sich, dass man ihnen angeblich «ihre Rechte» nimmt und sie nicht auf der Strasse für «ihre Rechte» einstehen können. Dabei verstehen sie leider nicht, dass es ja genau der freiheitliche und liberale Staat ist, der ihnen seit Jahrzehnten ein freies, sorgenloses und offenes Leben ohne Krieg ermöglicht. Und jetzt macht sich der Staat auch noch Sorgen um die Gesundheit seiner Bürger und es ist natürlich auch wieder nicht recht. In diesem kruden Weltbild ist das Virus «eine Lüge» und lediglich ein Versuch der Regierung, Freiheiten einzuschränken oder sogar eine Diktatur einzuführen.

Wutbürger, Esoteriker und Nazis haben keine konkrete Vorstellung von der Zukunft

Dazu kommt, dass diese Leute ausser ihrem Ärger gegenüber dem Staat und den angeblichen «Eliten» nichts an konstruktiven Ideen für eine bessere Zukunft beizutragen haben. Keine Ideen, keine Ansätze, keine Vorschläge, nichts. Nur Geschwurbel. Diese Leute glauben teilweise ernsthaft, der Staat habe absichtlich «Hysterie» geschürt und die Wirtschaft nur heruntergefahren, um den Menschen zu schaden oder ihnen ihre Existenz zu zerstören.

Natürlich ist die aktuelle Lage nicht toll und viele Menschen leiden noch lange an den Folgen der Krise. Aber Krise kann eben auch als Chance begriffen werden. Aber diese Covidioten, wie sie im Netz bereits genannt werden, wollen unbedingt – koste es was es wolle – zurück in ihre bisherige Welt, weil sie Angst haben, ihren Status zu verlieren oder weil sie sich eine andere Welt schlicht nicht vorstellen können. Dass es genau jetzt aber darum geht, eine neue Welt zu bauen, verstehen sie offensichtlich nicht.

Lieber vergleichen sie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit mit einer Diktatur. Und genau diese Umdeutung ist gefährlich. Wer gegen sie ist, so die Message, ist ein Diktator oder eben ein «Antidemokrat». Auf Transparenten und in Statements gegenüber Medien werden die Corona-Massnahmen der Regierung sogar häufig mit Nazi-Methoden verglichen: «Es erinnert an Nazideutschland, das ist etwas, das ich nicht erleben möchte, und auch nicht, dass so etwas zukünftige Generationen erleben müssen», sagt beispielsweise eine Demo-Teilnehmerin unverhohlen gegenüber dem Berner Regionalfernsehen Tele Bärn.

Ob sie tatsächlich eine Vorstellung von den NS-Gräueltaten hat? «Es erinnert an Nazideutschland.» Demo-Teilnehmerin in Bern. Bild: Tele Bärn.

Ein Vergleich der aktuellen Situation mit der NS-Diktatur, verharmlost nicht nur die Verbrechen unter Adolf Hitler, sondern ist auch eine Verhöhnung der Opfer des nationalsozialistischen Massenmordes. Es ist anzunehmen, dass diese Frau – wie viele andere Teilnehmer mit ähnlichen Aussagen – nicht wirklich die Dimension und die Ungehäuerlichkeit versteht, von dem was sie da überhaupt sagt.

An einer «Hygiene-Demo» in Deutschland wurde am Wochenende sogar Anne Frank instrumentalisiert. Auf einem Transparent war ihr Foto zusehen mit der Überschrift. «Anne Frank wäre bei uns.»

Auf einem anderen Transparent war zu lesen: «Top fünf der Diktatoren 1920 – 2020 Gates, Merkel, Söder, Hitler, Honecker.» Mit anderen Worten: Hitler war gar nicht so schlimm wie immer alle behaupten. Auf diese menschen- und demokratieverachtende Idee, Angela Merkel und Bill Gates mit einem Massenmörder in die gleiche «Hitliste» zu setzen, muss man erstmal kommen.

Neben einer angeblichen Gefahr vor einer Diktatur und dem Leugnen oder Relativieren der Coronamassnahmen, eint diese Leute vor allem der Hass auf die «Elite», die angeblich die Gesellschaft steuert, manipuliert oder sogar bewusst zersetzen will. Die Leute glauben ernsthaft, «die Eliten» würden die Gesellschaft in geheimen Hinterzimmern «von oben orchestrieren». Und genau sie haben natürlich diese «geheimen» Informationen und die Absichten aus diesen Hinterzimmer-Konferenzen erfasst und einen «Skandal» aufgedeckt, den Medien und Politik angeblich versuchen zu vertuschen.

Tatsächliche globale Ungerechtigkeit liegt nicht im Fokus der «Covid-Gegner»

Natürlich läuft in den europäischen Gesellschaften und auch weltweit nicht alles gut. Natürlich gibt es Korruption oder es kommt immer wieder zu Kartellabsprachen, mit denen sich einige Unternehmer einen finanziellen Vorteil verschaffen. Natürlich gibt es Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Welt. Diese Phänomene sind aber nicht Teil eines Plans, der an Veranstaltungen wie der berüchtigten und bei Verschwörungstheoretikern viel zitierten Bilderberg-Konferenz ausgehandelt wird, sondern es sind Lücken des demokratisch akzeptierten Systems.

Ungerechtigkeit, Korruption und Ungleichheit gibt es, weil das kapitalistische System einige wenige Menschen sehr reich macht und diese reichen Leute die Anliegen der Mehrheit normalerweise ausser Acht lassen. Das hat nichts mit einem Geheimplan und einer Verschwörung der «Welteliten» zu tun, sondern ist Teil der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen «Normalität».

Rational betrachtet müssten diese Menschen eigentlich einen Groll auf super-reiche Unternehmer wie Jeff Bezos haben, der ein unvorstellbares Vermögen von knapp 140 Milliarden Dollar besitzt. Der Groll müsste sich also, wenn schon, gegen Leute richten, die in Saus und Braus leben, während «normale» Bürger oft auch mit einer Festanstellung kaum mehr über die Runden kommen. Aber die ungleiche Verteilung von Reichtum und Vermögen steht nicht im Fokus dieser Demonstranten. Wenn das so wäre, würden – beispielsweise in den USA – Wutbürger nicht ihre Stimme Donald Trump geben, einem Mann, der offensichtlich nur an seinen eigenen Interessen und an der Vermehrung seines eigenen Kapitals interessiert ist.

Auch in Europä wählen solche Menschen mehrheitlich rechte Parteien (AfD, SVP etc.), die sich nicht um die Rechte der «kleinen» Menschen kümmern. Insofern handeln die Wutbüger höchst irrational und produzieren somit ihre eigene geistige «Verschwörung».

Auch in der aktuellen Debatte um Bill Gates geht es den Verschwörungstheoretikern grundsätzlich nicht um sein Vermögen. Vielmehr führen sie und die Impfgegner eine Pseudo-Debatte, wonach Gates die Menschheit zwangsimpfen oder sogar auslöschen will. Das ist ziemlich absurd und zeigt ebenfalls die dahinterliegende Irrationalität.

Für Unerklärbares braucht es einen Sündenbock

Obwohl die Demonstranten angeblich die Demokratie verteidigen wollen, verstehen sie offensichtlich weder was Demokratie bedeutet, noch welche Herausforderungen für unsere Gesellschaft und die Welt jetzt wirklich von Bedeutung sind. Und weil sie weder Demokratie noch die Herausforderungen verstehen, suchen sie nach Sündenböcken, die für die aktuelle Sitiuation verantwortlich gemacht werden. Wenn ich das Virus nicht verstehe, muss es entweder erfunden sein, oder es exisitiert gar nicht.

Wenn ich den Grund des Corona-Lockdowns nicht nachvollziehen kann, muss es eine bewusste Manipulation der Regierung sein. Wenn ich die Kontrolle über mein Leben und meine Situation verloren habe und ich mir die Unsicherheit nicht erklären kann, muss es eine «Elite» geben, die mir diese Kontrolle und Sicherheit böswillig entzogen hat. So einfach ist das Weltbild der «Corona-Leugner» oder «Corona-Skeptiker».

Verschwörungstheoretiker sind «Profis» in der Adaption und Umdeutung von Slogans und Bildsprachen. Hier ein «Remix» der Anti-Aidskampagne, «Gib Aids keine Chance».

Die Umdeutung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Faschismus, die Gleichsetzung der Regierungen in freiheitlichen und offenen Gesellschaften mit historischen Massenmördern (Hitler war «weniger schlimm» als unsere Regierungen) ist äusserst gefährlich. Das Problem wird noch verschärft, weil diese Menschen weder der Wissenschaft noch den Massenmedien glauben. Umso mehr sie als Spinner bezeichnet werden, desto eher fühlen sie sich darin bestätigt, dass eine «Elite» sich gegen sie verschworen hat. Umso mehr Medien Fake-News und Hetze von Agitatoren wie Ken Jepsen widerlegen, desto eher zweifeln sie an seriösen Medien und den öffentlichen Sendern, weil diese angeblich «die Wahrheit» ausblenden wollen.

Es wird spannend zu sehen, wie die Politik in den kommenden Wochen auf diese Proteste reagieren wird/kann. Sicher ist, die Mobilisierung der Corona-Gegner ist noch nicht am Ende und sie werden noch zahlreicher auf die Strassen gehen. Es ist deshalb zu hoffen, dass all jene, denen Demokratie, Rechtsstaat und Gemeinwohl wirklich etwas bedeuten, sich von diesen Veranstaltungen fernhalten und nicht gemeine Sache mit Verschwörungstheoretikern, Nazis und Eso-Spinnern machen. Und Familien, bitte lasst eure Kinder zuhause.

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