Es ist Zeit, alte Gewohnheiten hinter uns zu lassen

Auf der Welt gibt es etwa 1,5 Milliarden Auto. Die meiste Zeit stehen sie am Strassenrand, wie hier in Berlin. Bild: php
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Die Coronakrise hat das Leben von uns allen massiv einegschränkt. Von der Reisefreiheit über das Besuchen von Verwandten bis zur Zwangspause des Konsums. Die Kriste zeigt: Ein anders Handeln ist möglich. Wenn wir alte Gewohnheiten hinter uns lassen und jetzt neue Gewohnheiten auch in Zukunft beibehalten, wäre schon viel gewonnen, um die Welt zukunftsfähig zu machen. – Von Philipp Bürkler

Die Welt hat sich in den vergangenen Wochen so stark verändert, wie noch selten zuvor in so kurzer Zeit. Obwohl die Angst bei vielen Menschen wegen des Virus gross ist – Angst vor Krankheit, Angst vor Jobverlust oder Angst, die gesamte Existenz zu verlieren – hat die Krise zweifelsfrei auch ihre guten Seiten. Sie durchbricht alte Gewohnheiten und bringt neue Gewohnheiten. Sie lässt alte Verhaltensmuster verschwinden und neue – nachhaltigere – entstehen. In dieser Werteverschiebung werden Gesundheit und Gemeinschaft wieder wichtiger als Eigenleistung und Karierre.

Die aktuelle Krise hat Auswirkungen auf unser Leben, unsere Städte, auf das Reisen und die Art, wie wir arbeiten werden. Um in Zukunft auf erneute Pandemien sowie die Klimaerwärmung gewappnet zu sein, müssen sich Menschen und ihre Umgebung verändern.

Beispielsweise Städte: diese müssen umgebaut und den menschlichen Bedürfnissen des 21. Jahrhunderts angepasst werden. Städte werden seit fast 100 Jahren augfrund den Bedürfnissen des motorisierten Indivualverkehrs geplant und gestaltet. Parkplätze nehmen heute einen überdurchschnittlich grosen Raum ein. In der Stadt Zürich gibt es beispielsweise 70 000 Parkplätze. Raum, der Menschen fehlt um sich zu entfalten.

Zurzeit gibt es in den Städten massiv weniger Verkehr. Die Folgen sind sichtbar. Die Luft ist vielerorts so sauber wie seit Jahrzehnten nicht mehr, sogar Tiere kehren zurück in den urbanen Raum. Gleichzeitig lernen die Menschen die neuen Freiräume bei einem temporären «Ausbruch» aus ihrer Isolation in den eigenen vier Wänden als neue Lebensqualität kennen. Wenn es gelingt, das bisherige Aussamass des Verkehrs vor der Krise auch künftig zu reduzieren, steigt die Lebensqualität stark an. Gerade in Grossstädten sterben weltweit Millionen Menschen an schlechter Luft und Lärm.

Die Krise zeigt, wie wichtig Grünflächen in Städten sind, als Erholungsraum, aber auch als kühlende Massnahme gegen steigende Temperaturen in den kommenden Jahren. Städte müssen sich verändern, um auch unter den Bedingungen der Klimaerwärmung lebenwert für ihre Bewohner zu sein.

Verändern muss sich auch das Wohnen: In den vergangenen Jahrzehnten hat die Wohnfläche stetig zugenommen, während die Aussenräume kahler und menschenleerer wurden. Für die Stadt der Zukunft braucht es neue Wohnformen, die nicht nur in den eigenen vier Wänden Komfort bietet, sondern auch soziale Kontakte im öffentlichen oder halböffentlichen Raum ermöglichen. In Gesellschaften mit zunehmender Überalterung sind soziale Treffpunkte vor der Haustüre immer wichtiger. Nachbarschaftshilfen und Gemeinschaft erleben derzeit eine grosse Nachfrage und sind ein Bedürfnis für viele Menschen. Viele erleben Isolation und Alleinsein jetzt das erste Mal in ihrem Leben. Für mehr als jeden dritten Menschen ist Einsamkeit jedoch seit Jahren tägliche Realität. Hier sind neue Formen des «Einbindens» und gemeinsamen Erlebens gefragt.

Bezüglich Digitalisierung erhält derzeit Fernunterricht oder Fernarbeit – Home Office oder Homeschooling – einen regelrechten Boom. In Zukunft könnten Hunderttausende, wenn nicht Millionen, Flug- oder Autoreisen eingespart werden, wenn sich Menschen vermehrt virtuell zu einem Meeting treffen. Natürlich sind Face-to-Face-Kontakte und echte Begegnungen das Wichtigste in der Kommunikation und dem Ausstausch von Menschen. Aber müssen Geschäftsleute für ein zweistündiges Meeting und einem anschliessenden kurzen Business-Lunch wirklich früh morgens nach London fliegen, nur um dann abends wieder zurück in Berlin oder Zürich zu sein? Wenn nur schon drei von vier Meetings virtuell stattfänden, würde das für das Ökosystem eine enorme Entlastung bedeuten.

Auch das individuelle Reisen muss künftig massvoller gestaltet werden. Corona schränkt derzeit staatlich verordnet die Reisefeiheit von uns allen massiv ein. Wir «verreisen» jetzt nicht einfach schnell am Wochenende mit Easy Jet in ein andere europäische Stadt oder für ein paar Euro über die Ostertage nach Mallocra. Neben dem Ausbau der Schieneninfrastruktur und internationalen Zugsverbindungen und Nachtzügen, wären auch Reisekontingente denkbar. Zwei Flugreisen pro Person und Jahr. Wer gar nicht reisen möchte, könnte sein Kontingent beispielsweise handeln und jemandem «verkaufen», der noch mehr reisen möchte. Reisen und die Welt «entdecken» sind zwei der grössten Errungenschaften der vergangenen Jahre. Aber müssen wir wirklich vier- oder fünfmal im Jahr über ein Wochenende in eine Stadt fliegen? Neben positven Auswirkungen auf das Klima hätte ein gewisser Rückgang der Reisetätigkeit auch Auswirkungen auf Städte, die im Overtourism seit Jahren fast ersticken, beispielsweise Luzern oder Venedig.

Die Wirtschaft muss «am Laufen» gehalten werden. Das ist klar. Aber wie soll «Wirtschaft» künftig aussehen? Wollen wir eine Wirtschaft in der sich einige wenige eine goldene Nase verdienen und sich die Mehrheit die Mieten und den Lebensunterhalt nicht mehr leisten kann? Oder wollen wir die Ressourcen – materiell wie finanziell – so aufteilen, dass eine Mehrheit daran teilhaben kann? Die Frage, wie Ökonomie künftig funktionieren soll, ist wahrscheinlich die zentralste aller Fragen im Umgang mit einer verantwortungsvollen Zukunft. Die Coronakrise hat die Anfälligkeit des Wirtschaftssystems deutlich vor Augen geführt. Und auch die Klimakatastrophe ist letzendlich eine Krise der wirtschaftlichen Verhältnisse die auf Wachstum und Ressourcenabbau funktioniert. Die natürlichen Ressourcen sind gewissermassen «ökologische Kredite» die das Wachstum der vergangenen Jahre überhaupt erst möglich geacht haben.

Corona zeigt uns nicht nur, wie wichtig funktionierende Gesundheitssysteme sind, sondern auch den Wert unserer individuellen Gesundheit selbst. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir Städte und den öffentlichen Raum insgesamt jedoch vor allem den ökonomischen Bedingungen unterworfen. «Design by economic growth» war das Ziel und nicht «Design by human growth».

Die Gewohnheit, sich ständig auf Wachstum zu beziehen und es als Massstab des täglichen Handelns zu verstehen, muss nun verschoben werden zugunsten der Bedürfnisse der Menschen und der Umwelt. Es ist Zeit, alte Gewohnheiten abzustreifen.

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