Mit den schrittweisen Lockerungen des Lockdowns soll es in die «neue Normalität» gehen. Die Verwendung dieses Begriffs ist aber gefährlich und falsch. Einerseits gibt es in der Geschichte keine Möglichkeit, das Rad zurückzudrehen, andererseits werden die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Zustände vor Corona als weiterhin erstrebenswert legitimiert. Wir sollten nicht die «Normalität», sondern die neue Realität anerkennen und aktiv gestalten. – Von Philipp Bürkler
«Zurück zur Normalität», auf in eine Welt der «neuen Normalität» – Das fordern seit Tagen vor allem Unternehmer und wirtschaftsfreundliche Politiker. Die Forderung stellten viele von ihnen bereits wenige Tage nach Beginn des Lockdowns. Es konnte nicht schnell genug gehen. Die Lockdown-Gegner können jubeln. Ab heute Montag gibt es die ersten Lockerungen in Deutschland. Die Schweiz folgt in einer Woche.
Die Frage ist, wiê lange das Jubeln anhalten wird? Verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler befürchten denn auch bereits einen weiteren Lockdown – ja vielleicht sogar mehrere Lockdowns in den kommenden Monaten. «Wir können immer wieder zurück rutschen in einen Lockdown der viellecht sogar strenger oder länger ist als der diesige», sagt beispielsweise die deutsche Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim. Was für Deutschland gilt, gilt auch für andere Länder die jetzt langsam wieder ihre Volkswirtschaften hochfahren wollen. Es kann also gut sein, dass in den kommenden Monate die Wirtschaft und das öffentliche Leben von Staaten wie Computer hoch- und runtergefahren werden.
«Neue Normalität» vergisst die globalen Herausforderungen
All jene, denen es nicht rasch genug gehen konnte, rechnen natürlich damit, dass die Wirtschaft nur ein einziges mal wieder hochgefahren werden muss und für einige Monate in einem temporären Krisenmosus bleiben wird. Diese Übergangszeit wird – bevor es dann letzlich wieder zurück zur absoluten «Normalität» und zu «business as usual» gehen soll – von zahlreichen Unternehmern, Politikern und Medien als «neue Normalität» bezeichnet.
Diese Wortwahl und Begrifflichkeit ist aus mehreren Gründen aber gefährlich und falsch. Einerseits suggeriert der Begriff, dass es – ausser einigen Einschränkungen wie Maskenpflicht, sozialer Distanz oder dem weiterbestehenden Verbot von Gross- und Massenveranstaltungen – so rasch wie möglich wieder so sein soll wie vor Corona. Da es aber weder eine Zeitmaschine noch eine Uhr gibt mit der man die Zeitachse zurückdrehen kann, wird es – ob wir wollen oder nicht – nie mehr so sein wie vor der Krise. Zeit und Geschichte laufen kontinuierlich vorwärts und nie zurück. Bereits vor der Krise war kein Tag gleich wie der vorige. Ausserdem ist «Normalität» etwas sehr Subjektives. Für den einen ist es «normal», täglich einige Tausend Euro oder Franken zu verprassen, während der andere kaum sein tägliches Essen finanzieren kann. Gemeinsam ist beiden jedoch die Realität eines Lebens mit potenziell gefährlichen Coronaviren. Wir leben also nicht in einer «neuen Normalität», sondern in einer neuen Realität.
Problematisch ist der Begriff «neue Normalität» aber auch, weil er die sozialen, ökonomischen und ökologischen Verhältnisse in der Zeit vor Corona als problemlos legitimiert. Er sagt, wir müssen jetzt einfach ein paar Monate mit Einschränkungen auf die Zähne beissen und sobald ein Impfstoff da ist, geht die Party weiter. Weiter mit endlosem Wachstum, weiter mit sozialer Ungleichheit, weiter mit Massentourismus, weiter mit immer grösseren SUV, weiter mit Wohlstand auf Kosten südlicher Länder, ja, einfach weiter wie bisher. Es war ja so toll.
Es ist eine ziemlich bequeme Haltung die keine Anstrengungen erfordert. Anstatt die ökonomische und soziale Ungleichheit aus der Welt zu schaffen oder die Bemühungen gegen die Klimaerwärmung aktiv anzugehen, soll der Pre-Corona-Status Quo aufrechterhalten werden. Das bedeutet vor allem Status Quo für eine priviligierte Minderheit die vom Lockdown finanziell weit weniger betroffen ist als Menschen in weniger gut bezahlten oder weniger angesehenen Jobs.
In den vergangenen Tagen konnte man immer wieder lesen, dass die wirtschaftlichen Folgen eines Lockdowns nicht gerechtfertigt seien, «nur um ein paar Alte oder Kranke» zu retten. Die würden ja sowieso bald sterben, warum also dieser ganze Aufwand, so das menschenverachtende Narrativ von Politikern und Akteuren aus dem rechten bis rechtsextremen Spektrum.
Aber auch Menschen mit weniger extremen Einstellungen folgen der Marktlogik, nach der es schliesslich «normal» ist, dass es einen gewissen Prozentsatz an Working Poor oder Wohnungslosen in einer Gesellschaft gibt. Schliesslich regelt alles der Markt und es ist «natürlich», dass der soziale Aufstieg eben nicht alle schaffen und es nicht alle gleich guthaben können: Pech gehabt, selber schuld. In dieser Sichtweise ist es auch völlig «normal», wenn einige wenige Millionen verdienen während andere in prekären finanziellen Verhältnissen leben müssen und kaum ihre Familien ernähren können. Dabei ist es auch «normal», ökologische Herausforderungen den ökonomischen Interessen unterzuordnen.
Neue Gerechtigkeit anstatt «neuer Normalität»
Wenn wir anerkennen würden, dass wir in einer neuen Realität leben und alle im gleichen Boot sitzen, dann müssten wir erkennen, dass wir anstatt einer «neuen Normalität» viel mehr eine neue Gerechtigkeit im Umgang mit benachteilgten und schwächeren Menschen bräuchten. Anstatt einer «neuen Normalität» brauchen wir dringend auch ein neues Bewusstsein im Umgang mit Ressourcen, den Ökosystemen und unserem Verhältnis zum Konsum.
Wenn es das Ziel ist, möglichst rasch wieder zu den Verhältnissen von vor der Krise zurückzukehren ohne aktiv soziale und ökologische Veränderungen herbeizuführen, wird die einmalige Chance vertan, eine Welt zu bauen, die für alle Menschen lebenswert ist. Es wird auch die Chance vertan, die ökologischen Bedingungen zu ändern. Wenn wir es jetzt nicht schaffen, schaffen wir es auch in den kommenden Jahren nicht oder aber die Konsequenzen werden ungleich dramatischer ausfallen.
Sollten wir es jetzt versäumen, Ungleichheit zu beseitigen und die Herausforderungen der Klimaerwärmung anzugehen, wird die Welt schon bald kein Ort mehr sein für ein Leben in Würde für alle. Diese Welt wäre nicht nur ein schlechter Ort für sozial benachteiligte Menschen, sondern auch ziemlich schlecht für die priviligierten Schichten. Auf einem Planet mit einem kaputten Ökosystem sind auch steigende Börsenkurse, finanzielle Profite und eine Villa am Meer wertlos.
Es wird Zeit, aus der bisherigen vermeintlichen «Normalität» auszubrechen und die Probleme und Herausforderungen der neuen Realität anzuerkennen und anzugehen.
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