Essay: «Bullshit Jobs» bieten keine Lösungen für die Krise

Das historische Industriegelände an der Wilhelminenhofstrasse in Berlin-Oberschöneweide hat schon einige Wirtschaftskrisen erlebt und überlebt. Foto: phb
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Vier Jahrzehnte Wachstumspolitik ohne Ende bei gleichzeitiger Privatisierung von Spitälern und Altersheimen. Dazu ein Narrativ, wonach boomende Märkte Lebensqualität für alle garantierten. Die Ursachen der aktuellen Krise die durch das Coronavirus ausgelöst wurde sind vielfältig. Es ist Zeit, eine neue Welt zu bauen. Soziale Utopien könnten schon morgen Realität sein. – Von Philipp Bürkler

Die Welt ist derzeit in einer Situation, die unsere Zukunft so offen hält, wie schon lange nicht mehr. Vielleicht leben wir sogar in einer Zeit, die so zukunftsoffen ist wie noch überhaupt nie in der Menschheitsgeschichte. Was zurzeit auf der Welt abläuft ist heftig und wird nicht ohne Folgen bleiben. Das ist klar. Wie die Folgen aussehen ist noch nicht absehbar. Die Zukunft der Welt liegt im Dunkeln.

Eines scheint in dieser ungewissen Zeit aber gewiss: Es ist jetzt der richtige Moment, die Zukunft neu zu denken. Wir müssen wirtschaftlich und sozial unser Mindset ändern und uns von jahrzehntelang eingespielten Strukturen trennen und vertraute Handlungen über Bord werfen. Das Wichtigste ist es, jetzt die Menschen und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen.

Die Coronakrise ist die Hauptprobe für die bevorstehende Klimakatastrophe. Beides sind Krisen die aber nur oberflächlich und auf den ersten Blick mit der Natur und der Umwelt zusammenhängen. Klar hängt die Klimaerwärmung mit der Veränderung der Natur und der Umwelt zusammen. Auslöser für diese Umeweltveränderungen ist aber der industrielle CO2-Ausstoss der Menschen. Das Coronavirus ist offensichtlich von Fledermäusen übertragen worden, weil die Tiere von den Menschen in zu engen Käfigen gehalten wurden.

Wer keinen «Output» produziert fällt durch das neoliberale System

Die Hauptgründe für diese beiden Krisen sind aber vor allem in den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen und Misständen der vergangenen 40 Jahre zu suchen. Das neoliberale Narrativ seit der Zeit von Reagan und Thatcher ab Anfang der Achtzigerjahre lautete: Wachstum, Wachstum, Wachstum und ein möglichst kleiner Sozialstaat. Es ist ein System, das Menschen in zwei Kategorien teilt. In Gewinner und Verlierer. Menschen die nicht genügend «Output» generieren sind in einem Unternehmen lediglich ein Kostenfaktor. Das Ziel jedes wachstumsgetriebenen Unternehmens ist es deshalb, möglichst viel Arbeit mit möglichst wenig Personal zu bewältigen. Gerade deshalb sind die Kosten im Gesundheitswesen ungleich höher als in anderen Branchen. Ein Spital ohne entsprechende Anzahl an Pflegerinnen und Ärzten kommt rasch an seine Grenzen der Belastung. Die Coronakrise macht das in verschiedenen Ländern deutlich.

In der Logik des Neoliberalismus sollen all jene viel Geld verdienen die wirtschaftliches Wachstum generieren. Dazu gehören Berufe im Finanzsektor oder der Wirtschaftsberatung. Wer nicht studiert hat – egal aus welchen Gründen – soll später im Beruf Ende Monat auch weniger Geld auf dem Konto haben, schliesslich trägt er oder sie auch kaum zum Wachstum. Das Mantra, «der Markt wird es regeln», hat sich in den vergangenen Jahrzehnten so stark in den Köpfen der Menschen der westlichen Industriestaaten festgesetzt, dass alternative oder abweichende Wirtschaftsmodelle unmöglich schienen. Schliesslich – so die Erzählung – sorgt der Markt für Wohlstand und Lebensqualität, weshalb er um keinen Preis verändert werden soll. Ja, der Makrt soll sogar wie ein nationales Kulturgut oder Heiligtum geschützt werden.

Die Coronakrise zeigt aber deutlich, dass hochbezahlte Jobs – der amerikanische Ethnologe David Graeber bezeichnet sie als «Bullshit Jobs» – zur Bewältigung der aktuellen Situation nichts beizutragen haben. Es sind jetzt eben gerade schlechtbezahlte Kassierinnen, Pflegefachleute oder Therapeuten die tatsächliche soziale Dienste leisten und das System am Laufen halten. Die massive Aufwertung von wachstumsgetriebenen Jobs bei gleichzeitiger Abwertung sozialer Berufe und deren niedrige Bezahlung mag einer der Hauptgründe sein, weshalb viele Staaten schlecht auf die aktuelle Krise vorbereitet waren. Privatisierungen im Gesundheits- und Sozialbereich sowie Einsparungen bei Sozialprogrammen verschärften die Situation zusätzlich. Die Sozialsysteme vieler Staaten wurden in den vergangenen Jahren dem Markt überlassen und auf Profit ausgerichtet. Ein Spital sollte wie ein börsenkotiertes Unternehmen Gewinne erzielen. Der Mensch und seine Gesundheit wurden ökonomisiert und somit materialisiert.

In der bisherigen Logik war es Konsens unter Entscheidungsträgern, dass sich die Wirtschaft nach einer Krise immer wieder erholen wird. Dieses Denken setzt auch voraus, dass Krisen Teil des kapitalistischen Systems und deshalb unvermeidlich sind. Anders ist es nicht zu erklären, dass Staaten fast im Zehnjahres-Rhythmus «systemrelevante» Banken oder Fluggesellschaften mit Milliardenbeträgen aus Steuergeldern retten müssen. In den ersten 20 Jahren des neuen Jahrtausends sind wir jetzt in der dritten einschneidenden Krise. Zuerst die geplatze Dotcom-Blase 2001 mit dem Zusammenbruch der New Economy, dann die Finanzkrise 2008 und jetzt – als Supergau – zwingt ein Virus das gloable Wirtschsftssytem in die Knie.

Dass es sich bei der Coronakrise nicht um eine «gewöhnliche» Krise handelt, machen die derzeitigen Bewältigungsstrategien der Staaten deutlich. In einer «normalen» Krise ist die Lösung jeweils einfach: Regierungen pumpen auf keynesianische Art Geld in die Märkte bis die Menschen wieder konsumieren und der Wirtschasftsmotor wieder brummt.

Auf Unternehmensseite wird in solchen Fällen in der Regel jeweils versucht, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter solange zu halten, wie es nur geht. Sie zu entlassen wäre aus Profitgründen schlecht. Denn: «Normale» Krisen gehen vorüber und der Konsum kehrt relativ rasch wieder zurück. Es kommt im Anschluss an die Krise zu einem Nachfrageboom. Unternehmen die jedoch alle Mitarbeiter entlassen haben, sind beim einsetzenden Aufschwung personell nicht in der Lage, ihre Produktion möglichst rasch wieder hochzufahren, um die steigenden Konsumbedürfnisse der Menschen zu stillen. Entlassungen sind in diesem Normalfall also buchstäblich kontraproduktiv.

Hält eine Krise jedoch länger an – und danach sieht es aktuell aus – kommt es zu mehr Entlassungen und die Arbeitslosigkeit steigt. Verschärfend kommt derzeit noch hinzu, dass wegen des Lockdowns der Konsum grösstenteils eingeschränkt ist. In bisherigen Krisen haben die Menschen trotz Flaute nie völlig aufgehört, Produkte zu konsumieren. Dieses Mal jedoch bleiben Shopping Malls, Restaurants und Hotels geschlossen. Hält eine solche Situation länger an, kann es zu einer wirtschaftlichen Depression kommen.

Mögliche Auswege aus der wirtschaftlichen «Normalität»

Die von Covid-19 verursachte Zwangspause vieler Industrien und der ausbleibende Konsum führen also zu einem massiven Produktionsrückgang und – als Nebeneffekt – zu klarem Wasser in Flüssen und sauberer Luft, weil die Industrie weniger Öl und Benzin verbraucht.

Die Coronakrise führt uns exemplarisch vor Augen, dass Wachstum und hohe Produktivität – also wirtschaftliche «Normalität» – extrem belastend sind für Mensch und Umwelt. Um den Herausforderungen der Klimaerwärmung zu begegnen und das Zwei-Grad-Ziel zur Reduktion des CO2-Ausstoss zu erreichen, müssten wir die industrielle Produktion und den Flugverkehr weltweit massiv verringern. Mindestens in dem Ausmass, wie es jetzt coronabedingt unfreiwillig abläuft.

Oder anders gesagt: Die Wirtschaftsleistung müsste mindestens auf dem aktuellen tieferen Coronalevel bleiben, selbst dann, wenn die Forschung einen Impfstoff entwickelt und das Virus grösstenteils unter Kontrolle ist. Je höher die Produktivität, desto mehr CO2 in der Atmosphäre. Je geringer die Produktivität, desto weniger Treibhausgase. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es einige Optionen.

Erstens müssen sich alle Menschen klar darüber werden, dass es nicht mehr so sein wird wie bisher und die Wirtschaft nicht mehr auf das Pre-Corona-Level hochgefahren werden kann. Auch wenn Unternehmer, wirtschaftsfreundliche Politiker und andere Akteure das bereits fordern. Ein mögliches Ende des Lockdowns nach Ostern – so wie es derzeit in der Schweiz und Deutschland kontrovers diskutiert wird – dürfte wohl ein ziemlich optimistisches Szenario sein. Wahrscheinlich dauert der Shutdown noch einige Wochen länger, solange aktuell die Fall- und Sterblichkeitsraten noch ansteigen. Auch nach Ende des Lockdowns ist ein «zurück zur Normalität» keine Option. Die «Verlangsamung» der Gesellschaft sowie der Wirtschaft müssen auch danach im Zeitalter der Postpandemie- und Klimaerwärmung weitergeführt werden, wenn wir die Umwelt und damit unseren Lebensraum auf lange Sicht erhalten wollen.

Zweitens müssen wir die Arbeitswochen verkürzen. Eine Dreitageswoche würde völlig ausreichen. Ist es wirklich sinnvoll, fünf Tage in der Woche in einem Büro oder an einer Supermarktkasse zu sitzen oder uns von einem Termin zum nächsten zu hetzen? Mit einer kürzeren Arbeitswoche hätten wir mehr Zeit für Famile und Freunde, Hobbys oder Sport Die Verlangsamung hätte also auch positive Auswirkungen auf das psychosoziale Empfinden der Menschen. Es gäbe weniger Stress und Leistungsdruck. Von der Automatisierung der Industrie und den Robotern ganz zu schweigen.

Drittens müssen wir die Löhne von schlechtbezahlten Jobs – die jetzt ganz offensichtlich systemrelevant sind – massiv erhöhen und den Menschen in diesen Berufen mehr Anerkennung, Wert und Achtung entgegenbringen. Nicht selten arbeiten Menschen in Berufen die ihnen eigentlich Spass machen, mit deren Gehältern sie den Lebensunterhalt aber nicht bestreiten können. Noch radikaler wäre es, Lohnarbeit als Haupteinkommen völlig zu beenden und ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen. Warum sollen Menschen zur Arbeit gezwungen werden, wenn sie vielleicht aus gesundheitlichen Gründen gar nicht arbeiten können? Sogar in diesen Tagen gibt es Unternehmen die ihre kranken und potenziell verletzlichen Mitarbeiter zur Arbeit zwingen. Das darf nicht sein.

Plötzlich setzen Staaten Utopien in die Realität um

Die Reaktionen und Massnahmen verschiedenster Staaten auf die Covid-19-Krise zeigt, dass es zu einem gesellschaftlichen und wirtschaftlicen Shift, zu einem Umdenken, kommen könnte. Und vor allem wird deutlich, dass ein solcher Shift nicht mehr realitätsfremd ist, sondern durchaus machbar. Zurzeit werden von Staaten teilweise Massnahmen ergriffen, die noch vor wenigen Wochen als völlig undenkbar, ja utopisch abgetan wurden. Spanien verstaatlicht Spitäler, Trump verteilt jedem Bürger 1’200 Dollar, eine Massnahme die eher der Politik seines sozialistischen Konkurrenten Bernie Sanders zuzuschreiben wäre, und Grossbritannien diskutiert über eine Verstaatlichung der öffentlichen Verkehrsmittel, nachdem die Bahnen vor Jahren privatisiert wurden. Selbst der deutsche Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier hält die «Verstaatlichung» von Unternehmen für diskutierbar.

Die aktuelle Entwicklung – so bedrohlich sie für viele Menschen auch ist – gibt Hoffnung, dass sich die Welt nun verändert. Plötzlich werden Fragen und Möglichkeiten diskutiert, die vorher undenkbar und alternativlos erschienen.

Sorgen bereiten aber auch gegenläufige Entwicklungen oder menschenfeindliche Aussagen, mit denen die Akteure um jeden Preis den Status Quo zu sichern versuchen. Beispielsweise der texanische Politiker Dan Patrick, ein Parteikollege Trumps, der kürzlich dafür plädierte, ältere Menschen sollten sich doch bitteschön gefälligst opfen, damit die Economy der Weltmacht USA nicht in Gefahr gerate und der amerikanische Traum wegen eines Virus nicht platze. Bedenklich stimmen auch die gemäss Umfragen steigende Beliebtheit des mit der Krise völlig überforderten Donald Trumps oder die Aktion des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbans, der den Rechtsstaat mit Unterstützung des Parlaments kurzerhand in eine Autokratie umwandelte.

Die Krise zeigt aber vor allem, dass konstruktive Zukunftsmodelle für eine lebenswertere Gesellschaft durchaus möglich sind. Wir – die Menschen – müssen die Veränderung weltweit nur herbeiführen und das bisher Undenkbare realistisch Denken. Die Zeiten waren noch nie so chaotisch, aber auch noch nie so offen und sozial veränderbar wie heute.

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