Corona-Lockdown: Die Wirtschaft «lebt» nicht, Menschen schon

Der Flughafen Zürich im Frühling während des Lockdowns. Leere Anzeigetafeln und menschenleere Hallen. Foto: phb
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Immer öfter hört man, ein weiterer Lockdown müsse mit allen Mitteln verhindert werden. Lieber eine Durchseuchung als ein weiterer Stillstand der Wirtschaft, so offenbar die Haltung. Die Wirtschaft müsse «überleben», so als ob es sich dabei um einen Menschen handelt. Gleichzeitig ist das tatsächliche Überleben von Menschen zweitrangig. Es ist eine unmenschliche Haltung. Menschen werden der Wirtschaft noch immer untergeordnet. Wirtschaft zuerst, Gesundheit an zweiter Stelle. Die Kosten einer solchen Strategie könnten aber fatal sein.

Was ist uns Menschen wichtiger: Die Gesundheit oder die Wirtschaft? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Wirtschaftsvertreter*innen und Politiker*innen sind sich oft einig: Ein weiterer Lockdown muss verhindert werden. Zuerst die Wirtschaft, dann die Gesundheit der Menschen. Das Credo: Wirtschaft first.

Die Wirtschaft, so das Argument, dürfe keinen Schaden nehmen, sie müsse «überleben». Solange die Wirtschaft funktioniere, seien auch Wohlstand und Fortschritt gewährleistet und damit letztendlich auch die Gesundheit der Menschen. Dieses Betrachtungsweise ist aus mehreren Gründen fragwürdig.

Erstens «lebt» die Wirtschaft nicht. Sie ist kein Mensch, sondern ein geistiges Konstrukt, das nur in unserer Fantasie existiert. Die Wirtschaft funktioniert nur, weil die allermeisten Menschen an diese Idee von Tausch und Handel oder an die Idee des Geldes glauben. Selbst wenn man das «Überleben» als Sinnbild verwendet, würde die Wirtschaft nicht «sterben». Es geht wirtschaftlich immer irgendwie weiter. Ganz im Gegensatz zu einem Menschenleben.

Zweitens ist es eine egoistische Haltung, die nur die Bedürfnisse der Unternehmen nach Wachstum und Profit berücksichtigt. Die angeblich wichtige «Überlebensfähigkeit» der Wirtschaft ist letztendlich nur ein Argument der Unternehmen, um mit ihrer Angst vor einem Verfehlen ihrer Wachstumsziele umzugehen oder gegenüber ihrer Konkurrenz nicht in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.

Drittens bedient die «Wirtschaft-mit-allen-Mitteln-aufrechthalten»-Strategie das Narrativ, wonach Wohlstand nur durch Konsum erreichbar sei. Nur wenn weiterhin konsumiert werde, könne auch der Wohlstand aufrechterhalten werden. Tatsächlich geht es den Unternehmen aber nur um ihre Um- und Absätze, die sie mit dem Verkauf ihre Produkten erzielen. In Tat und Wahrheit bringt aber der beste Wohlstand den Menschen nichts, wenn ihre Körper krank und sie nicht mehr in der Lage sind, zu konsumieren.

Ausserdem ist das Narrativ des Wohlstands eine Erzählung aus dem Industriezeitalter der Nachkriegszeit. Damals, ab etwa 1960, als sich die Menschen erstmals ein Auto, ein Haus, eine Waschmaschine und Ferien leisten konnten, profitierte praktisch jeder einzelne Mensch von der Zunahme des Wohlstandes. Und heute?

Heute sind wir gesättigt mit Konsumgütern. Wohlstand kann 2020 also nicht mehr mit einer Steigerung des Konsums durch materielle Güter gleichgesetzt werden, sondern nur noch mit immalteriellen Gütern gesteigert werden. Und was ist das höchste aller immateriellen Güter? Genau, die Gesundheit.

Wer die «Wirtschaft am Laufen» halten will, argumentiert also nicht nur aus Sicht des materiellen Wohlstands durch den Konsum von Gütern, sondern stellt letztlich das immaterielle Gut der Gesundheit grundsätzlich in Frage. Oder anders gesagt: Gesundheit wird so zu einem materiellen Gut, das sich durch Konsum definiert. Dazu passt auch die Jubiläumsparty in einem Shopping Center am vergangenen Wochenende. Auf Biegen und Brechen wurde trotz steigender Fallzahlen ein Konsumevent durchgeführt. Hauptsache der Betrieb «überlebt» und macht Umsatz.

Diese Sichtweise ist fatal. Sie zeigt, dass Menschen noch immer den wirtschaftlichen Interessen untergeordnet werden. So, als ob die Zukunft der Menschheit an einer florierenden Wirtschaft abhängen würde. Wir dürfen nicht vergessen. Wirtschaft im heutigen Sinne ist zivilisatorisch gesehen eine recht neue Erfindung, die im 18. Jahrhundert mit dem Frühkapitalismus und den ersten Handelsunternehmen ihren Anfang nahm. Heute tun wir so, als ob das Überleben der Menschheit vom «Überleben» der Wirtschaft abhängig sei. Eigentlich ist es doch gerade umgekehrt.

Das sture Aufrechthalten der Wirtschaft trotz steigender Ansteckungszahlen könnte sich ausserdem als Bumerang erweisen. Wenn jetzt nicht das öffentliche Leben rasch und sofort stillgelegt wird, wie das verschiedene Wissenschaftler*innen fordern – also ein erneuter Lockdown stattfindet – könnte das Weihnachtsgeschäft stark darunter leiden. Vielleicht sind wir in einigen Wochen in einer Situation, die Weihnachten völlig verunmöglicht.

Auch längerfristig dürfte das Festhalten an der «Wirtschaft-am-Laufen-halten-Strategie» womöglich mehr Schaden anrichten als beabsichtigt. Geraten die Ansteckungszahlen völlig ausser Kontrolle, dürfte eine Rückkehr zur viel beschworenen «Normalität» noch Monate dauern. Wohlbemerkt. Die erste Corona-Well fand im Frühling bei wesentlich milderen Temperaturen statt als der bevorstehende Winter. Dennoch sind die Fallzahlen erst gegen Mai gesunken.

Würden wir vielleicht jetzt ein paar Wochen «den Laden» mit einem Lockdown nochmals dicht machen, könnte die Kurve angeflacht werden und wir wieder rascher zur «Normalität» zurückkehren. Ansonsten müssen wir uns mit der neuen Realität abfinden, die unser Leben womöglich längerfristig verändern wird.

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