Corona trifft unsere Zivilisation in einer heiklen Phase

Armut im südlichen Europa: In Serbien leben laut Angaben der serbischen Regierung 1,6 Millionen Menschen mit durchschnittlich 67 Euro pro Monat. Das Bild zeigt eine graue Betonsiedlung in der Hauptstadt Belgrad, wo ausrangierte Trams aus Basel im Einsatz sind. Bild: phb
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Die Coronakrise wird die Welt umformen und transformieren. Sie macht nicht nur die Instabilität des aktuellen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems transparent, sondern könnte Veränderungsprozesse in den kommenden Monaten sogar exponentiell beschleunigen. Allerdings kann Veränderung nur gemeinsam und unter Zusammenarbeit zwischen Individuen und zwischen Staaten gestaltet werden. – Von Philipp Bürkler

Es ist Frühling. Die Sonne scheint häufiger und länger. In Zeiten von Quarantäne oder Isolation ist frühlingshaftes Wetter ein Widerspruch. Einerseits wollen wir ins Freie, andererseits sind wir gezwungen, zu hause zu bleiben, um uns selbst und andere vor einer Covid-19-Ansteckung zu schützen. Um dennoch den Duft des Frühlings zu spüren, bleibt vielen Menschen nur die Möglichkeit, auf dem Balkon zu sitzen oder das Fenster ihrer Wohnung zu öffnen und hinauszuschauen.

Nicht nur die Fenter der Wohnungen öffnen sich jetzt im Frühling, auch gesellschaftlich tut sich aufgrund des Coronavirus‘ ein Fenster weit auf. Das sogenannte Overton-Fenster. Die Wissenschaft bezeichnet mit «Overton Window», das nach dem Begründer dieser Theorie Joseph P. Overton benannt ist, den Rahmen von Ideen und deren Chancen auf Akzeptanz und Verwirklichung. Es geht also um den richtigen Zeitpunkt, in dem neue Ideen in einer Gesellschaft breit akzeptiert sind und ihre Umsetzung realistisch ist. Jetzt ist so ein Zeitpunkt.

Konstruktive vs destruktive Veränderung

In «normalen» Zeiten ist die Auswahl an Ideen begrenzt, Covid-19 verbreitert den konstruktiv-diskursiven Rahmen des Fensters. Plötzlich sind Massnahmen mehrheitsfähig und akzeptabel, die noch vor kurzer Zeit undenkbar gewesen wären. Menschen merken plötzlich, wie sie aufeinander angewiesen sind und dass Solidarität mehr ist als nur ein leeres Wort. Oder es wird auf staatlicher Ebene plötzlich ernsthaft über das Grundeinkommen oder einen Green New Deal diskutiert. Auch im Arbeitsleben ist dieser Shift spürbar. Home Office oder die intensive Nutzung von Kommunikationstools wie Skype oder Zoom erschienen bis vor Kurzem für viele Menschen als Arbeitstechnik unmöglich. In der akuten Krise haben sich diese Formen beschleunigt und durchgesetzt und erscheinen in der «neuen» Realität fast schon normal.

Gleichzeitig wird leider auch der Rahmen des Destruktiven verbreitert. Beispielsweise durch eine Zunahme von Verschwörungstheorien, rechtpopulistischer oder rechtsextremer Vereinnahmung oder Ausweitung von Überwachung bis hin zur Installation antidemokratischer Strukturen. Solche menschenfeindliche Entwicklungen gilt es abzublocken und soweit möglich einzudämmen oder sie – im Falle von politisch motivierter Hetze, Rassismus und Diskriminierung – im öffentlichen Diskurs zwingend als solche zu benennen.

Verletzlichkeit des Systems macht es anfällig auf Krisen

Abgesehen von einigen negativen Veränderungen gilt es jetzt, den konstruktiven Veränderungsprozess, den das unsichtbare und zerstörerische Virus ausgelöst hat, zu fördern und weiterzuentwickeln. Gerade weil unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem so fragil ist, ist die Situation nun, wie sie ist. Wäre die Gesellschaft eine andere, wäre sie bereits nachhaltig und resilient organisiert, wären die Folgen wahrscheinlich geringer. Die Wirtschaft würde lockdownbedingt kurz etwas einbrechen, die Auswirkungen wären jedoch begrenzter. In einer solchen idealen Welt würden sich Staats- und Regierungschefinnen kurz via Videokonferenz austauschen und darüber beraten, wie sie einander medizinisch, humanitär und finanziell helfen könnten.

Leider leben wir nicht in dieser Realität. In der heutigen Realität streiten sich EU-Staaten um Finanzhilfen und die solidarische Haftung der Schulden. Staaten sind nicht in der Lage, ihren «Nachbarländern», die stark von Covid-19 betroffen sind, ad hoc mit Beatmungseräten oder Pflegepersonal zu helfen. Erst nach langen Verhandlungen und Streitigkeiten haben sich die EU-Finanzminister nun auf ein Rettungspaket von 500 Millionen Euro geeinigt. Ob auch für die Schulden solidarisch gehaftet werden soll, ist noch nicht klar.

«And, you know, there’s no such thing as society»

Das Coronavirus entlarvt die strukturellen Fehler eines Systems, die seit Jahrzehnten als alternativlos hingenommen wurden. Das «System» des Neoliberalismus‚ hat die vergangenen rund 40 Jahre vor allem menschliches Elend, Egoismus und Ungleichheit produziert und die Gesellschaft als Einheit gespaltet. Margaret Thatcher, neoliberale Vordenkerin und britische Premiermnisterin hat bereits vor 38 Jahren das Konzept von Gesellschaft und Gemeinschaft für beendet erklärt. «So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt nur einzelne Männer und Frauen und deren Familien.» Es ist das von ihr und dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan eingeführte Verständnis von «Gesellschaft», freien Märkten, unendlichem Wachstum sowie dem «Naturrecht» und der «Freiheit» des Stärkeren, das nun an seine Grenzen stösst.

Wir erleben eine «Phasenverschiebung»

Ausserdem trifft Covid-19 die Welt zu einem heiklen Zeitpunkt, an dem die wirtschaftlichen und ökologischen Verhältnisse angespannter und komplexer sind als jemals zuvor. Die aktuelle Krise ist nicht nur eine «Krise der Natur», welche dieses Virus hervorgebracht hat, sondern vor allem eine Krise der menschlichen Systeme und deren Fragilität. Das Coronavirus macht die Probleme der industriellen neoliberalen, auf Expansion ausgerichteten Welt und die damit verbundenen Folgen von Ressourcenverschleiss, Konsumverhalten oder Vermüllung der Meere, sichtbar. Ein binäres System wie der Neoliberalismus, das zwischen «arm» und «reich» unterscheidet, kommt mit der aktuellen strukturellen Störung nicht klar. Und vor allem passt es nicht in die Idee von Gemeinschaft und Solidarität, die von Menschen seit Ausbruch des Virus weltweit in Form von Nachbarschaftshilfen und sozialen Projekten gelebt wird.

Die Coronakrise macht die Fehler des wachstumgetriebenen Systems transparent. Und es offenbart seine Anfälligkeit und Abhängigkeiten. Genau deshalb ist eine Richtungsänderung, hin zu einer sozialen und positiven Denkrichtung, einem «Change of Mindset», derzeit möglich. Ähnlich den Kipppunkten der bevorstehenden Klimakatastrophe, nach denen die Natur irreversible Schäden nimmt, beispielsweise durch das Abschmelzen der Polkappen, gibt es auch in Gesellschaftssystemen solche «Tipping Points», nach denen gleich mehrere Systeme ins Wanken kommen können.

Wissenschaftler nennen diesen Prozess «synchrones Versagen». Dabei «führen Mehrfachbelastungen in von Menschenhand geschaffenen Systemen zu katastrophalen Zusammenbrüchen in ihrer Funktionsweise», sagt Klimawissenschaftler Will Steffen vom Stockholm Resilience Centre. «Angesichts der Vernetzung unseres globalen Systems können diese Zusammenbrüche ein Land betreffen, aber in vielen anderen Ländern gleichzeitig zum Versagen der Finanzsysteme oder globalen Lieferketten führen.»

Phasenverschiebung zur mehr Kooperation

Die Unterbrechung von Lieferketten ist eine Folge der wachstumsgetriebenen Just-in-Time-Produktion, die nicht auf Fehler vorbereitet ist. Die Folgen sind Lieferengpässe bei Medikamenten oder Elektronikgeräten. Waren Krisen früher eher auf einige wenige Branchen, Staaten oder gesellschaftliche Bereiche beschränkt, ist die Coronakrise eine typsche intersystemische Krise, da sie vom Gesundheitssystem, über breite Teile der globalen Wirtschaft, den Sozialsystemen bis zu den Finanzhaushalten der Staaten – Stichwort Staatsverschuldung – praktisch keinen Bereich verschont.

Der britische Autor Nafeez Ahmed spricht in diesem Zusammenhang von einer «Phasenverschiebung», weil sich die industrielle Zivilisation in einer Phase befinde, in der schon kleine Störungen grosse, globale Wirkung entfalten könnten. Gleichzeitig befänden wir uns aber auf dem Weg zu einer neuen Phase, in der die Menschen die Zukunft «gemeinsam mitgestalten» könnten, so Ahmed. Das klingt vielversprechend.

Die globale Pandemie zeigt, dass die gesamte Menschheit im selben Boot sitzt, beziehungsweise auf dem selben Raumschiff Erde. Die aktuelle Krise kann nur gemeinsam und global gelöst werden. Kollaboration und Kokreation werden Kernkompetenzen für uns und die kommende Generation, persönlich ebenso wie auf politischer Handlungsebene. Es geht nicht mehr um eine Globalisierung der Güter und die Leistung des Einzelnen, sondern um eine Globalisierung der Ideen, des Austausches und des Miteinanders.

Eine Rückkehr zur neoliberalen Wachstumspraktik mit dem «Immer-mehr-ist-besser»-Denken, der damit verbundenen schonungslosen Ausbeutung von Ressourcen und der Einteilung von Menschen in Gewinner und Verlierer, wäre der grösste Fehler des 21. Jahrhunderts. Von den Veränderungen die jetzt angestossen werden, hängt nicht nur die Zukunft des Planeten und unser Überleben ab, sondern auch, wie resilient wir auf künftige Pandemien vorbereitet sind. Jetzt ist es an der Zeit, die Zukunft gemeinsam so zu gestalten, dass sie für alle lebenswert ist, Ungleicheit beseitigt und das Leben jedem einzelnen Menschen Sinn stiftet. Weil wir jetzt diese Chance haben, dies dahingehend zu verändern, ist diese Krise – so viel soziales und wirtschaftliches Leid sie auch bringt – eine Chance zur richtigen Zeit.

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