Die Versuchung ist gross, nach Corona auf die Pauke zu hauen. Das ist gefährlich

Wohin nach der Coronakrise? Bestimmt nicht in die alten Verhaltensmuster. Die Krise sollte ein Turningpoint sein, um endlich die Richtung zu ändern. Bild: phb
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Wir stecken mitten in der Krise. Dennoch sehen bereits viele Menschen «Licht am Horizont», weil derzeit Impfdosen ausgeliefert werden. Viele überlegen sich bereits, was sie nach der Krise alles anstellen könnten, um das Versäumte nachzuholen. Der Wunsch ist verständlich. Dennoch sollten wir den Fehler vermeiden, in alte Muster zurückzufallen.

Vor einigen Wochen sagte der Schweizer Bundesrat Ueli Maurer, dass die Pandemie vielleicht bereits in zwei Wochen vorbei sein werde. Ob er das tatsächlich geglaubt hat und wirklich so naiv ist, wissen wir nicht. Es wäre ihm aber zuzutrauen. Tatsache ist aber, dass er damit falsch lag. Ziemlich sogar. Mit dem Impfen wurde eben erst begonnen, bis sich alle Menschen werden impfen können, wird es noch eine ganze Weile dauern.

Dennoch macht sich bereits jetzt eine euphorische Post-Corona-Stimmung breit. Viele überlegen sich bereits, was sie nach der Pandemie alles tun werden, das sie in den vergangenen Monaten versäumt haben oder wegen des Lockdowns und anderen Restriktionen wie Reisebeschränkungen nicht tun konnten, aber wieder tun möchten.

Es ist beispielsweise anzunehmen, dass es nach der Pandemie zu einer sexuellen Revolution kommt. Dass die Menschen also das genaue Gegenteil von Social Distancing das wollen, extreme körperliche Nähe und Nachholbedarf von Sexualität.

Weiter ist schwer anzunehmen, dass die Menschen nach der Pandemie wieder reisen wollen. Mit dem Flugzeug in ferne Länder und Kontinente. Es sind aber auch ganz banale Dinge wie der Besuch von Freunden oder dem Fitness-Center. Das Ende der Pandemie scheint noch nie so nahe zu sein wie jetzt. Das birgt auch Gefahren.

Ausser der sexuellen Revolution sollten wir aber gerade nicht mehr in die alten Muster verfallen. Ausbrechen aus dem Alltag ja, aber nicht mit den Mitteln und Strategien der Vor-Pandemiezeit. Wir müssen dafür sorgen, dass der Himmel nach der Pandemie nicht wieder mit Kerosin versprühenden Flugzeugen vollgestopft ist.

Wenn der (berechtigte) Nachholbedarf nach der Pandemie die ganze Situation noch schlimmer macht als zuvor, sind alle Massnahmen für eine ökologische Zukunft sinnlos. In den eben angebrochenen 20er-Jahren sollten wird darauf bedacht sein, dass das Ökosystem unseren bisherigen Lebensstil nicht mehr verträgt. In einer höheren Dosis schon gar nicht.

Es ist wohl kein Zufall, dass 2020 menschliche Güter erstmals ein grösseres Gewicht erreicht haben als die gesamte Biomasse. Erstmals haben Autos, Strassen, Häuser und Kühlschränke das Gewicht von einer Billion Tonnen überschritten und wiegen damit mehr als alle Bäume, Menschen und Tiere zusammen. Die von Menschen erzeugte künstliche Masse ist ein Symbol unserer Konsumkultur. Das Verrückte: Alle 20 Jahre verdoppeln sich die künstlichen Güter in ihrer Masse. Denkt man in die Zukunft, verkommt die Erde zu einer riesigen Kugel aus Plastik, Beton und Metall. Welcome to Dystopia.

2020 holte uns in diesem Sinne zurück in die Realität und die Ebene der Vernunft. Das Virus machte uns klar, wie fragil der Planet ist und wie stark abhängig wir von den natürlichen Ressourcen sind. Nach der Pandemie wieder zurück in die alte Welt wäre etwa gleich naiv wie die Ausage des oben genannten Regierungsmitglieds. Sie wäre nicht nur naiv, sondern sogar auch sehr dumm.

So traurig Covid-19 ist, weil so viele Menschen sterben und leiden, so ist das Virus dennoch ein Mahnmal für den Konsumfetisch unserer Gesellschaften und ein Signal für Veränderung. Wir haben innert kürzester Zeit bewiesen, dass wir sogar trotz geschlossenen Tankstellen über die Festtage leben/überleben können. Trotzdem sind wir im neuen Jahr angekommen. Wer hätte das noch vor einem Jahr gedacht?

Wenn wir als Menschheit Covid nicht als Alarmsignal interpretieren und jetzt glauben, nach den Impfungen sei alles wieder wie bisher, outen wir uns definitiv nicht als die intelligenteste Spezies im Universum.

Trotz der Millionen Toten die Covid bisher tragischerweise gefordert hat, sollten wir im Virus eine Chance sehen. Eine Chance, uns endlich zu verändern und nicht mehr länger von Veränderung reden. Covid hat gezeigt, dass sich Politik und Menschen in Krisenzeiten bewegen und buchstäblich über Nacht Dinge sich positiv verändern können, wie beispielsweise aufpoppende Fahrradwege oder die Solidarität unter Menschen.

Gleichzeitig macht die derzeitige Situation auch Angst. Während viele Geschäfte und Shopping-Centern geschlossen waren, bestellten die Menschen einfach mehr Dinge online. Auch auf der öffentlich-politischen Ebene in den Debatten fehlte es an Weitsichtigkeit. Anstatt uns über die Zukunft Gedanken zu machen, ging es in der Diskussion vor allem darum, wie gross der Schaden für die Wirtschaft bei einem Lockdown wohl sei. 

Anstatt uns über nachhaltige Strategien, Demokratieförderung oder das zukünftige Zusammenleben Gedanken zu machen, diskutierten Medien lieber über Querdenker und deren Leugnung des Virus oder ob das Maskentragen eine Verletzung der persönlichen Freiheiten seien. Sogar die SRG wirbt derzeit mit dem Slogan «Meinungsfreiheit», so als ob sie in den vergangenen zehn Monaten abrupt in Gefahr gewesen sei. Das war natürlich nicht so, sondern ist eine Konstruktion von Verschwörungsideologien, auf deren Leim viele Medien und Politiker:innen gekrochen sind.

Während Politiker:innen sich Sorgen machten, ob eine weitere Staatsverschuldung vertretbar sei und wie hoch wohl der Schaden für die Wirtschaft sei, haben wir es versäumt, über eine gerechtere Verteilung von Vermögen und Reichtum zu diskutieren. Im Gegenteil, mussten wir uns alle paar Wochen anhören, wie stark die Vermögen von Superreichen wie Elon Musk, Jeff Bezos oder Mark Zuckerberg angestiegen seien. Alleine in den USA haben die reichsten Menschen im vergangenen Jahr ihr Vermögen gesamthaft um mehr als 930 Milliarden – also fast eine Billion Dollar – steigern können.

Wir haben es versäumt, darüber zu reden, weshalb das reichste Prozent der Weltbevölkerung – etwa 40 Millionen Menschen – für mehr als 50 Prozent der Treibhausgase verantwortlich ist. Es wurde nie darüber diskutiert, dass diese Menschen ihre Emissionen von Treibhausgasen um 97 Prozent reduzieren müssten, wenn sie wirklich einen Beitrag zum Klimaschutz leisten wollten. Stattdessen werden Multi-Milliardäre wie Popstars gefeiert, deren Reichtum auch der normale Bürger möglichst nahe kommen darf. Reichtum gilt noch immer als erstrebenswerter Traum. Nur wer Geld hat, hat es geschafft, so das gängige Narrativ. 

Steuerreformen, die grosse Vermögen umverteilen, sollten in den kommenden Jahren neben der Klimaerwärmung zuoberst auf der politischen Agenda stehen. Eine Umverteilung ist dringend nötig. Anders kann Armut nicht bekämpft und das soziale und gesellschaftliche Gefüge nicht in Balance gehalten werden.

Es ist zu hoffen, dass Präsidenten wie Bolsonaro in Brasilien und Trump in den USA eine Ausnahmeerscheinung sind, weil sie während Corona die Umweltauflagen sogar gelockert haben, nur um angeblich «ihre Wirtschaft» nicht zu schwächen. Es ist zu hoffen, dass der neue Präsident Biden in den USA bezüglich Klimaschutz tatsächlich eine Wende herbeiführen wird.

Es darf nicht sein, dass Corona ein Knall war, der letztendlich die Situation verschlimmert. Nach der Pandemie ist vor der Pandemie und sowieso vor der Klimakatastrophe. Es darf nicht sein, dass die Menschen nach der Pandemie in einen neuen Konsumrausch verfallen, trotz verständlichem Nachholbedarf. Corona sollte uns gelernt haben, dass es auch mit reduzierter Geschwindigkeit und begrenztem Wachstum weitergeht. Sogar besser weitergeht und wir dennoch ein gutes Leben führen können.

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