Die Zukunft ist verschoben – jetzt erstmal «Wirtschaft first»

Die Schweiz hat sich für den Weg der Wirtschaft entschieden, ohne auch nur im geringsten über eine andere Zukunft nachzudenken. Bisher zumindest. Bild: phb
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Bisher hat es der Bundesrat in der Schweiz während der Coronakrise verpasst, die Gesellschaft in eine nachhaltigere und resiliente Richtung zu bringen. Dem Druck der Wirtschaft wurde nachgegeben und die Lockdown-Massnahmen werden nun früher als erwartet gelockert. Jetzt heisst es, «Wirtschaft first, Zukunft später, irgendwann.» Und dass die Swiss-Rettung nicht an klimapolitische Massnahmen geknüpft wird, macht den mangelnden Mut, Zukunft neu und anders zu gestalten, zusätzlich deutlich. – Philipp Bürkler

Vor knapp sieben Wochen, am 13. März, erklärte Bundesrätin Simonetta Sommaruga an der Medienkonferenz in Bern in dramatischen Worten: «Meine Damen und Herren, die Situation ist schwierig». Noch drei Tage vor dieser Medienkonferenz lag die Anzahl infizierter Covid-Patienten bei 169. Etwa in diesem Bereich bewegen sich die Zahlen in diesen Tagen, wenn auch weiterhin abnehmend. Was damals als «ernst» eingestuft wurde, ist jetzt fast nicht mehr die Rede wert.

Gestern Nachmittag hat der Bundesrat an einer weiteren Medienkonferenz den «Fahrplan» für die Lockerungen aus dem Lockdown bekanntgegeben. Schulen, Restaurants und Bars, Läden und Museen dürfen bereits in gut zwei Wochen wieder öffnen.

In einem positiven Szenario gehen die Menschen – auch ohne Maskenplicht – weiterhin auf physische Distanz und die Fallzahlen sinken weiter. In einem schlechteren Szenario steigt die Zahl der an Covid erkrankten Menschen wieder an und es kommt womöglich zu einer zweiten Welle mit einem erneuten Lockdown. Wir werden sehen.

Natürlich ist es verständlich, dass Unternehmer, Restaurant- und Barbetreiber, Ladenbesitzer und Gärtner wieder Kundschaft in ihren Räumen haben wollen. Gleichzeitig wären die Fallzahlen wahrscheinlich noch weiter gesunken, hätte der Bundesrat noch ein paar Wochen mit den Lockerungen gewartet. Bars und Restaurant hätten vielleicht besser erst im Juni und die Schulen sogar erst nach den Sommerferien wieder öffnen sollen. Genau weiss es natürlich niemand. Was man mit Sicherheit sagen kann: Wirtschaft und Leistungsdruck haben das Spiel gewonnen.

Angehende Maturantinnen und Maturanten in der gestrigen Tagesschau sind verzweifelt. Sie wissen nicht, ob sie im Sommer geprüft werden oder nicht. Wissen nicht, ob sie lernen sollen, oder ob die Anstrengung am Ende für die Katz sind und sie die Zeit doch besser nutzen würden, um Freunde zu treffen, ihren Hobbys nachzugehen oder sonst etwas zu machen, was für sie persönlich das Leben bereichert.

Föderalismus in Ehren. Aber 26 verschiedene Bildungssysteme in einem kleinen Land wie der Schweiz? In einem Land, das von der Einwohnerzahl her etwa so gross ist wie New York City oder London, müssten Fragen der Bildung eigentlich auch überregional und einheitlich organisiert werden. Zumindest in Krisenzeiten wie jetzt. Dürften Restaurants beispielsweise nur im Aargau, Kleiderläden nur in St. Gallen und Museen nur in Zürich wieder öffnen: Der Aufschrei wäre gross.

In den vergangenen Tagen war der Aufschei aber nur von Seiten der Wirtschaft gross. Man müsse so rasch wie möglich wieder alles hochfahren und zur «Normalität» zurückkehren. So zumindest der Tenor von Gewerbe- und Wirtschaftsverbänden sowie Politikern Land auf Land ab.

Man hat fast den Eindruck, als hätten wir auf der Welt – ausser Corona – sonst keine ernsthaften Probleme. Klimaerwärmung? Was ist das? Soziale Ungleichheit? Haben wir das? Verstopfte Strassen mit Autos? Alles halb so wild. Wir fahren einfach die Wirtschaft wieder hoch, retten nebenbei noch die Fluggesellschaft Swiss, und machen so weiter wie bisher, dann wird alles wieder gut.

Wie eindimensional zum Teil gedacht wird, zeigen auch die teilweise fast peinlichen Journalistenfragen an den unzähligen Medienkonferenzen des Bundes in den vergangenen Wochen. Da wurden Dutzende Fragen gestellt, die bereits früher beantwortet wurden oder nicht beantwortet werden konnten, oder schlicht nicht relevant sind.

Aber es wurde keine einzige Frage zur längerfristigen Perspektive der Schweiz gestellt. Wie soll die Schweiz aussehen nach Corona? Was passiert mit den längerfristig durch Corona geschwächten Menschen? Wie könnte ein Wirtschaftssystem aussehen, das weniger Verlierer produziert? Was gedenkt der Bundesrat zu tun, damit auch in Zukunft mehr Menschen ihr Auto stehen lassen und mit dem Velo zur Arbeit gehen? Und immer so weiter. Die Leute interessert es nur, wie es der Wirtschaft geht, nicht aber wir das Leben organsiert sein könnte.

Spätestens jetzt müssten solche Fragen jedoch diskutiert werden. Sobald nämlich alles wieder «normal» läuft – sprich: das System so fehleranfällig wie vorher weiter rattert – wird es viel schwieriger werden, einen Kurswechsel hin zu einer resilienten und klimafreundlicheren Gesellschaft in Gang zu bringen.

Alle Welt redet derzeit davon, dass die Coronakrise ein soziales Experiment sei. Tatsächlich nutzen einige Städte und Stataten diese Möglichkeit. Städte geben Autospuren für Radfahrer fei oder denken ernsthaft für die Einführung eines Grundeinkommens nach.

Der Bundesrat hätte beispielsweise auch hier Strassen für den Langsamverkehr freigeben können oder in einer Testphase bis Ende Jahr ein Grundeinkommen auszahlen können an Menschen die von der Krise betroffen sind oder aktuell weniger als 4’000 Franken verdienen. Ein weiteres Experiment hätte an den Schulen getestet werden können. Anstatt darüber zu diskutieren, wer und wo Prüfungen schreiben muss und wann der Schulunterricht wieder beginnen soll, hätte den Schülerinnen und Schülern auch ganz einfach ein Kreativjahr finanziert werden können mit Sport- und Freizeitangeboten, Workshops oder Sprachkursen.

Die Tatsache, dass der Bund nun für die Bankenkredite für die Fluggesellschaft Swiss im Umfang von 1.3 Milliarden Franken bürgen will ohne das Geld an umweltpolitische Massnahmen zu knüpfen zeigt, dass es dem Bundesrat mit der Bekämpfung der Klimaerwärmung (noch) nicht wirklich ernst ist.

In der Schweiz mangelt es derzeit an Mut, über die Zukunft nachzudenken und auch zu träumen. Es mangelt an der Fähigkeit, sich eine andere Welt vorzuestellen und diese zu erreichen. Wie sagte Victor Hugo so schön: «Ein Traum ist unerlässlich, wenn man die Zukunft gestalten will.»

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