In der litauischen Hauptstadt Vilnius werden derzeit die Strassen und Gassen in der Innenstadt für Restaurants und Bars freigegeben, um den Menschen mehr Abstand zu ermöglichen. Eine gute Idee, die auch hierzulande umgesetzt und nach Covid-19 beibehalten werden sollte. Leider fehlt es bei der Stadtplanung meistens an Spontanität und an generellem Verständnis, Städte für Menschen und nicht für Grossunternehmen zu entwerfen. Plätze bleiben deshalb oft leer. Philipp Bürkler
Vor ziemlich genau 15 Jahren, im Frühling 2005, wurde in der Schweizer Stadt St. Gallen die «Stadtlounge» – auch bekannt als Roter Platz – eingeweiht. Es war das urbane Vorzeigeprojekt der international bekannten St. Galler Künstlerin Pipilotti Rist. Das urbane Wohnzimmer wurde damals als «städtebauliche Ikone» bezeichnet.
Eigentlich war es das Prestigeprojekt der Schweizer Grossbank Raiffseisen. Diese hatte zuvor ein ganzes Quartier mit historischen Bauten dem Erdboden gleichgemacht, um darauf ihren architektonisch ziemlich fragwürdigen Hauptsitz zu errichten.
Daraufhin schreib die Bank einen Ideenwettbewerb aus. Die Idee der Künstlerin Rist war es, dass sich die Menschen in diesem Freiluft-Wohnzimmer aufhalten und dort Zeit verbringen sollten. Obwohl die Idee damals weltweit einzigartig war, verblasste der rote Belag schon nach kurzer Zeit. Auch eine teure spätere Sanierung half nicht. Die Farbe ist ab, verblasst und ausgebleicht. (Sogar die Stadt zeigt in ihrer offiziellen Brochüre Fotos der ausgebleichten Lounge.)
Auch die Menschen bleiben grösstenteils aus. Ausser ein paar wenigen Büroangestellten der Bank und den umliegenden Geschäftshäusern die im Sommer ihren Lunch dort essen, ist der Platz meistens gähnend leer.
Städte im Sommer autofrei?
So genial der künstlerische Ansatz von Frau Rist auch war, das Konzept war nicht vollständig durchdacht. Die Bank wollte sich lediglich ein Denkmal setzen. Zuerst kurze internationale mediale Aufmerksamkeit, dann toten Stille. Kein Wunder. Der Bankneubau, der den Platz umgibt, ist kahl und ein architektonisches No-Go. Kein Mensch möchte sich über eine längere Zeit zwischen solch monströsen einfältigen Bauten aufhalten, geschweige denn, einen ganzen Nachmittag oder Abend dort verbringen wollen. Roter Platz und schicke übergrosse Wohnzimmerlampen, hin oder her.
Ausserdem gibt es keine Möglichkeit, am Abend draussen in ein Restaurant zu sitzen und sich zu amüsieren. Es ist eher ein Toter Platz als ein Roter Platz.
Ein weiterer Grund für solch tote Plätze – nicht nur in St. Gallen, in vielen Städten der Welt – ist das mangelnde Angebot an Restaurants und Bars in der Nähe. Gerade in Schweizer Städten mangelt es oft an Diversität im Gastrobereich. Dies liegt auch daran, weil die Mieten in den vergangenen Jahrzehnten so exorbitant gestiegen sind, dass sich nur noch McDonalds, H&M, Zara, Burger King oder Starbucks diese leisten können.
Warum handeln Städte nicht radikaler und innovativer? Beispielsweise könnten Städte beschliessen, dass kleinere Restaurant- und Ladenbetreiber, die für Diversität sorgen, niedrige Mietzinse zahlen müssten, während grosse internationale Ketten – wenn sie denn immer noch Lust haben auf einen Platz in der Innenstadt – das Doppelte oder Dreifache an Miete aufbringen müssten.
Litauen macht Innenstadt zum richtigen Wohnzimmer
Die Coronakrise wäre eine gute Möglichkeit, Stadt und ihre Beziehung zu den Meschen neu zu denken. Es wäre beispielswese nur schon ein Forschritt, wenn wenigstens jeweils ab Frühling bis Herbst die Städte autofrei wären. Das könnte zumindest ein guter Kompromiss für den Anfang bedeuten.
Die litauische Stadt Vilnius geht derzeit einen progessiven Weg. Während der Corona-Zeit öffnet die Stadt die Strassen und Gassen für Restaurant- und Barbetreiber. In Zeiten des Virus soll so mehr Abstand zwischen den Menschen ermöglicht werden. Die Stadt erlaubt es den Restaurantbetreibern, in dieser Saison konstenlos Tische und Stühle im Freien aufzustellen», erklärt Vilnius’ Bürgermeister Remigijus Simasius. Ausserdem legt die Regierung noch Restaurantgutscheine im Gesamtwert von 400’000 Euro für Angestellte im Gesundheitswesen oben drauf.
Auch wenn die Massnahmen der Open-Air-Cafes nur temporär sind – zumindest über den kommenden Sommer – so gewöhnen sich die Menschen rasch an diese neue «Freiheit» und wollen sie wahrscheinlich nicht wieder hergeben. Die Stadtbewohner nehmen durch solche Experimente ihre Stadt ganz anders und neu wahr. Wer weiss, ob die aktuell eingeführten spontanen Massnahmen nicht bleiben werden in den kommenden Jahren?
Warum passieren solche spontanen Aktionen, hin zu einer grüneren Stadt, nicht auch in der Schweiz? Warum reagiert beispielsweise eine Stadt wie St. Gallen nicht und sagt: «Hey, wir machen diesen Sommer auf dem Roten Platz sowie in der gesamten Innenstadt Restaurant- und Barbetrieb. Ohne lästigen und stinkenden Autoverkehr. Wir sind eine Stadt, die progressiv vorangehen will. Klimaschutz und das Wohl der Menschen ist uns wichtig.»
Leider ist ein solches Statement nicht zu hören. Aber wer weiss, vielleicht braucht es einen zweiten Lockdown bis Stadtverantwortliche kreativer werden im Umgang mit ihren öffentlichen Freiräumen.
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