Die Phasen von Krisen laufen fast immer gleich ab. Was jetzt?

Wie werden die jetzt auf der Erde lebenden Meschen mit der Klimakatastrophe umgehen? Und wie werden wir in einigen Jahren über unsere Gleichgültigkeit wohl denken? Bild: phb
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Krisen – ob persönliche oder kollektive – laufen fast immer gleich ab? Zu Beginn wird die Realität geleugnet, am Schluss besteht Hoffnung für die Zukunft. Wichtig ist, die Krise zu erkennen, sie als Chance zu begreifen und aktiv zu handeln. Offenbar können wir während der aktuellen Krise plötzlich entschieden handeln, dann sollte das auch im Hinblick auf die Klimaerwärmung möglich sien. – Von Philipp Bürkler

Ich mag mich noch gut erinnern, als 2009 ein damaliger Redaktionskollege beim Radio sagte: «Die Finanzkrise ist vorüber!» Tatsächlich war es nur das Ende einer Phase der Krise. Die etwas später aufkommende Euro-Schuldenkrise – deren Auslöser die Finanzkrise war – hatte noch niemand kommensehen. Der Bergriff Krise meint ja schliesslich, dass es sich um etwas Tempoäres, also Vorübergehendes, handelt. Etwas auf Zeit.

In der heutigen hyperkomplexen Welt, in der alle Systeme von Wirtschaft und Gesellschaft miteinander verbunden sind und sich wechselseitig beinflussen, ist ein «Ende» einer Krise kaum mehr möglich. Es wird lediglich ein einzelnes isoliertes Problem beseitigt, gleichzeitig aber wird ein weiteres Problem ausgelöst, welches die Krise in einen neuen Modus bringt. Ist das Virus unter Kontrolle, bedeutet dies nicht auch das Ende der wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Chaos ist ein Zustand.

Wir leben in einer Dauerkrise, in der sich alle möglichen Krisen abwechseln und weiterentwickeln. Wer mag sich noch an eine Zeit in den vergangenen Jahrzenten erinnern, die nicht von einer Krise belastet war? Es gibt immer irgendwo eine Krise. Zunehmend sind es globale Krisen, die alle Menschen betreffen. Demokratiekrise, Klimakrise, Armutskrise, Migrationskrise und jetzt die Coronakrise. Aber bereits vor dem Coronaausbruch gab es keine Nachrichtensendung die ohne den Begriff «Krise» ausgekommen ist. Krisen sind immer und überall.

Der emeritierte Yale-Professor Garry D. Brewer beschrieb die Zunahme von Krisen, Konflikten und globalen Problemen bereits in den 1970er-Jahren in seinem Buch «Existing in a World of Institutionalized Danger». «Unsere Welt wird zunehmend von kritischen Problemen heimgesucht, die eine rechtzeitige und wirksame Lösung erfordern. Da jedoch Anzahl und Intensität dieser Probleme zugenommen haben, sind die Verfahren und Mechanismen zu ihrer Identifizierung, Bewertung und Interpretation entweder nicht zügig vorangekommen oder so überlastet, dass eine Lösung nicht möglich war.»

Ähnlich den fünf Trauerphasen des Sterbens von Elisabeth Kübler-Ross gibt es auch bei sozialen Krisen – individuellen wie kollektiven – Phasen, die nach typischen Mustern ablaufen. Der schwedische Psychiater Johann Cullberg hat dieses Modell so definiert.

Phase 1: Schock

Wer erfährt, dass er schwer krank ist und nur noch wenige Monate zu leben hat oder aufgrund der Coronakrise seinen Job verliert oder seine Existenzgrundlage bedroht sieht, ist in einem Schockzustand. Als Folge wird die plötzliche «neue Realität» geleugnet und verdrängt. Es kann und darf nicht sein. Warum passiert das ausgerechnet mir?

Phase 2: Reaktion

In dieser Phase wird das Geleugnete als «neue Realität» erstmals erkannt, aber noch nicht mit der gefühlten empfundenen Realität ausgewechselt. «Aber ja, es ist offenbar tatsächlich so.» Angst und Hilflosigkeit, verhindern jeodoch weiterhin die Situation als neue Option zu nutzen und mit ihr adäquat umzugehen.

Phase 3: Bearbeitung

In Phase 3 wird die Situation erkannt und endgültig akzeptiert. Jetzt wird nach neuen Möglichkeiten und Lösungen gesucht, um mit der Situation klarzukommen. Negative Gedanken wechseln allmählich in Zuversicht und Hoffnung, dass es auch unter den neuen Bedingungen (irgendwie) weitergeht oder weitergehen kann/muss.

Phase 4: Neuorientierung

In Phase vier beginnt die aktive Öffnung gegenüber neuen Perspektiven und möglichen Zukünften. Es tun sich neue Optionen auf. Endlich. Leute erkennen, obwohl die Krise einschneidend war, dass sie auch eine Chance für die persönliche oder kollektive Weiterentwicklung darstellt.

Die Phasen können unterschiedlich lange dauern, sich überlappen oder sich sogar wiederholen, je nachdem, wie jemand mit der Situation umgeht und welche Schwere das Ereignis hatte. Alles relativ.

Und?

Die grosse Frage ist nun, in welcher Phase der Coronakrise sind wir aktuell und vor allem, welche Erkenntnisse ziehen wir als Weltgemeinschaft aus der letzten Phase Nummer 5? Können wir die Krise so nutzen, dass sie zur Zukunftschance für alle Menschen wird? Wissenschaftler haben schon vor Jahrzehnten vor einer möglichen Pandemie gewarnt, gehandelt hat aber niemand. Ein Virus war in einer Welt voller Terror und Angst vor flüchteten Menschen an den Grenzen nicht vorgesehen. Genauso verhält es sich bei der zunehmenden Verschuldung von Staaten, dem Glauben an permanentes Wirtschaftswachstum oder der drohenden Klimakatastrophe. Wir wissen zwar, dass es passieren kann oder tatsächlich passieren wird, dennoch leugnen noch immer viele Menschen diese Realität. Vielleicht, weil sie nicht mehr wissen, was Realität ist/sein kann?

Das Leugnen oder Nicht wahrhaben Wollen von offensichtlichen Tatsachen ist eine Form von kognitiver Dissonanz. Obwohl wir in Kenntniss sind über die Gefahren, leugnet das Gehrin die tatsächliche Gefahr. Bezüglich der Klimaerwärmung besteht seit Jahrzehnten eine kollektive kognitive Dissonanz in Politik, Wirtschaft und breiten Teilen der Gesellschaft.

Der britische Philosoph und Historiker Kwame Anthony Appiah hat vor gut einem Jahrzehnt ein Fünf-Phasenmodell entwickelt, das vor allem auf «moralische Revolutionen» fokussiert, also auf kollektives Umdenken bezüglich einer Gefahr oder eines Unrechts. Er sagt, drohende Krisen wie die Klimaerwärmung seien zwar längstens bekannt, entschlossenes Handeln bleibe aber aus, weil es für ein moralisches und geistiges Umdenken Jahrzehnte brauche, bis endlich gehandelt wird. Phase 1 beginnt 1945.

Phase 1: Ignoranz. Das Problem existiert nicht.

In dieser Phase besteht kollektive Ignoranz. Das Problem der Klimaerwärmung ist in der öffentlichen Wahrnehmung völlig unbekannt oder wird geleugnet, obwohl frühe Umweltaktivisten bereits vor dem Kollaps gewarnt haben oder Umweltzerstörung an immer mehr Orten sichtbar wurde. Diese Phase begleitete das gesellschaftliche Denken nach dem Zweiten Weltkrieg und dem darauf folgenden Wirtschaftswunder bis zur Katastrophe von Tschernobyl 1986. Es war die Zeit, als alle an Fortschritt glaubten und ökologisches Denken im Widerspruch stand mit dem glorifizieren Mainstream eines unhinterfragbaren Wachstums. Wer vor Umweltzerstörung warnte, war ein Spielverderber, weil alle anderen von Wachstum redeten/träumten und letztlich davon profitieren.

Phase 2: Da ist ein Problem.

1972 veröffentlichte der Club of Rome seinen Bericht «Grenzen des Wachstums». Dieses Buch machte den Menschen die Folgen von unbegrenztem Wachstum und Ressourcenverbrauch erstmals bekannt. Danach haben immer mehr Menschen das Problem erstmals überhaupt wahrgenommen. Die Zeitungen druckten erste Artikel mit dem Begriff «Umwelt». Entsprechende Massnahmen wurden aber nicht durchgesetzt, weil die gesellschaftliche Norm – Wachstum und Fortschritt – als unveränderbar galt. Die bisherige allgemeine Praktik des «Weitermachen-wie-bisher» blieb bestehen und war in den Köpfen stark verankert.

Phase 3: Wir sollten Handeln!

Der IPCC-Bericht, Protestbewegungen wie Fridays for Future oder die Einladung Gretha Thunbergs an das WEF in Davos im Jahr 2019, brachten die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer Kursänderung auf die politische Agenda und ins Bewusstsein von immer mehr Menschen. Jetzt, wenn sogar das WEF dieses Thema unter der Elite verhandelt, muss es also wichtig sein. Für alle. Das Thema fand Einzug in der elitären und gleichzeitig massenmedialen Wahrnehmung. Mehr Proteste und häufigere Medienberichterstattung über wissenschaftliche Erkenntnisse zementierten das Wissen über die reale Gefahr. Politik und Gesellschaft «at large» erkannten, dass etwas getan werden muss. Dennoch blieb aktives und rasches Handeln – so wie es in der Coronakrise mit staatlich verordneten Lockdown plötzlich möglich wurde – aber weiterhin aus.

Phase 4: Wir machen!

In dieser Phase beginnt tatsächliches aktives Handeln und sollte jetzt endlich beginnen. HIer wird das Problem erkannt und es werden auch Lösungen umgesetzt. In Phase 4 werden unter dem Vorwand demokratischer Ausgewogenheit keine Klimaleugner mehr in Talkshows eingeladen oder Gefahren kleingeredet. Es besteht nun gesellschaftlicher Konsens darüber, dass die Klimakatastrophe eine reale Gefahr ist, der mit allen Mitteln begegnet werden muss. Die Gesellschaft beginnt nicht nur mit dem aktiven Umbau einer nachhaltigeren Wirtschaft und der Installation von zukunftsfähigen institutionellen demokratischen Strukturen, sondern lässt auch alte, ökologisch zuwiderlaufende, Normen an Bedeutung verlieren und stellt sie nicht mehr ernsthaft als potenziell mehrheitsfähig zur Diskussion.

Phase 5: Was?

Diese Phase ist der Idealzustand. Sie liegt noch in der Zukunft. In dieser Phase konnte die Klimakrise abgewendet oder zumindest gemildert werden. Gesellschaft und Wirtschaft haben sich grösstenteils den neuen Bedingungen angepasst. Den Menschen wird in Phase 5 bewusst, dass sie in den Phasen 1 bis 3 irrational gehandelt haben und den Fokus auf Phase 4 fast verpasst hätten. In dieser Phase beginnen Scham und Unverständnis. Die Menschen fragen sich dann: Wie konnten wir in der Vergangenheit nur so gleichgültig sein? Was haben wir uns nur dabei gedacht?

Was jetzt?

Aktuell befinden wir uns hinsichtlich Klimaerwärmung in Phase 3. Phase 1 wurde erstmals als mögliche «Vergangenheitsbewältigung» thematisiert, nachdem der Club of Rome 1972 vor den «Grenzen des Wachstums» gewarnt hatte. Aber spätestens seit 1992, als die erste Weltklimakonferenz in Rio stattfand, hätte gehandelt werden müssen. Seither unterliegen Begriffe wie «Nachhaltigkeit», «Suffizienz» oder «Ökologie» einer breiten Debatte und die Korrelation von Wirtschaftswachstum und steigendem CO2-Ausstoss ist breit dokumentiert.

Bisherige CO2-Reduktionsziele reichen nicht. Es braucht mehr, um auf globaler Ebene wirklich etwas zu bewirken. Ein völliges Umdenken in Mobilität und Fortbewegung von Menschen. Hauptsache ohne Benzin und Öl. Autobahnen sollten – ähnlich wie 1973 – wieder regelmässig für Velo und Fussgänger offen sein. Dieses Mal nicht, weil der Ölpreis steigt, sondern, weil wir weg vom Öl wollen. Der «Raum» Autobahn soll ohne Auto neu erlebbar werden. Das Osterwochenende hat nun gezeigt, dass sich die Leute auch ohne Stau zu beschäftigen wissen. Oder sie lernen zumindest, wie sie ein Osterwochenende auch noch verbringen könnten.

Es wird höchste Zeit, dass wir endlich alle in Phase 4 ankommen: Phase 4 sollte der neue Mainstream sein. Denken und Handeln. Kollaboration und Ausprobieren. Neue Ideen und Konzepte umsetzen. Gemeinsam die Zukunft jetzt gestalten. Nicht, dass wir schon in 20 Jahren merken, wie dumm und gleichgültig wir uns selbst und künftigen Generationen gegenüber verhalten haben.

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