Gemeinschaft: Wie kann sie trotz Individualismus bestehen?

Die Menschen sollten nicht nur Autobahnbrücken bauen, sondern soziale Brücken, die Menschen verbinden. Foto: pb
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Wir Menschen der Postmoderne sind uns an Individualismus und Selbstverwirklichung gewöhnt. Trotz «sozialen» Medien und dem «Community»-Denken hat Individualismus einen höheren Stellenwert als Gemeinschaft und Fürsorge. Kollektive Fähigkeiten und der gemeinsame Wille, die Zukunft zu gestalten, wären im Hinblick auf die Bewältigung der ökologischen Krise aber wichtiger denn je. Die Menschheit muss endlich einsehen, dass wir nicht nur alle auf dem selben «Raumschiff» durchs All düsen, sondern wir auch alle dieselben Bedürfnisse und Rechte haben.

Spätestens seit den 1980er Jahren ist unsere Gegenwartskultur von Individualismus und Einzigartigkeit geprägt. Je stärker sich jemand von anderen Menschen unterscheidet – punkto Talenten oder Persönlichkeitsmerkmalen – desto grösser ist die Chance auf Erfolg und Selbstverwirklichung. Wer in der Masse untergeht, fällt nicht auf und bleibt in der Regel ohne Resonanz.

Dasselbe gilt für Städte oder Produkte. Früher hatten Städte lediglich den Zweck, dass Menschen in ihnen arbeiten und wohnen konnten. Heute konkurrieren Städte in einem internationalen Wettbewerb. Jede Stadt will individuell und anders sein. Eine Stadt muss attraktiv sein für Touristen. Interessant für Kunstschaffende. Offen für Investoren. Und wer mit einer hohen Lebensqualität punktet, steht im Städteranking sowieso gut da. Wettbewerb bedeutet immer: wir gegen die anderen. Berlin gegen London. Zürich gegen Basel. Amsterdam gegen Kopenhagen. Tokyo gegen Hongkong.

Dasselbe gilt auch für Produkte und Marken. Apple beispielsweise hat es geschafft, seine Produkte als individuell und einzigartig gegenüber der Konkurrenz zu positionieren. Einzigartigkeit und Unique Selling Proposition bezüglich Design. Individuelle und besondere Charaktere hat Apples Marketingabteilung aber auch aus ihren Kunden gemacht, welche die Produkte nutzen.

Dass sich dieser Produkte-Individualismus ins Gegenteil verkehrt, weil weltweit Millionen Menschen Apple-Computer oder Ikea-Bücherregale verwenden, ist nur einer der Widersprüche der individualisierten Gesellschaft. Tatsächlich geht es aber um kulturelle Abgrenzung. Wir gegen die anderen. «Wir», die besser verdienenden Apple-Konsumenten, und die anderen, der ganze Rest.

Unsere gesamte Gegenwartskultur ist von Individualismus geprägt. Die Influencer- und Social Media-Kultur zeigt dies täglich. Millionen Menschen schauen einer Person zu, wie sie sich – meist – durch die Präsentation von Markenprodukten selbst verwirklicht und selbst (re-)produziert. Dass solche Influencer:innen meist nur als digitale Litfassäulen für internationale Marken herhalten müssen, ist wiederum ein anderer Widerspruch unserer individualisierten Gesellschaft.

Individualismus und Ichbezogenheit sind gesellschaftlich positiv besetzt. Die Wahl Trumps vor vier Jahren war gewissermassen auch eine Folge dieser individualisierten Entwicklung der vergangenen Jahre und verlief parallel zur personifizierten Influencer-Culture.

Individualisierte Gesellschaften schaffen auch Verlierer

Individualismus und Selbstbestimmung sind zwar wichtige Errungenschaften unserer liberalen Gesellschaft. Jeder und jede soll das tun und lassen, was er/sie möchte und für richtig hält. Dennoch mangelt es in unserer Gesellschaft an «Gemeinschaft» und Fürsorge. Der kapitalistische Markt erzählt uns täglich das Gegenteil von Gemeinschaft: Jeder kann es schaffen, wenn du es nicht schaffst, bist du selber schuld, so das Mantra.

individualistische Gesellschaften produzieren also zwangsmässig Verlierer. Es sind jene Menschen, die es aus verschiedensten Gründen nicht schaffen, sich gegenüber anderen abzuheben und zu differenzieren.

Es sind Menschen, die weder schaffen, cool zu sein, noch sich selber in der ökonomischen Gegenwartskultur zu etablieren. Sie können nicht Schritt halten mit der Digitalisierung und den generellen Veränderungsprozessen. Es sind Menschen, die nicht von der liberalen Kultur profitieren, sondern sich abgehängt und missverstanden fühlen.

Viele dieser Menschen sind nicht an «Bord» des Dampfers der liberalen Kultur. Dem Liberalismus und der offenen Gesellschaft stehen sie ablehnend gegenüber, gerade weil sie ja nicht davon profitieren. Rechtspopulistische Politik und rechtsextreme Parteien sind leider oft das Sammelbecken solcher frustrierter Menschen.

Das Problem wird externalisiert. Schuld am eigenen Versagen sind entweder Menschen, denen es noch schlechter geht, oder solche, deren Verhalten die Abgehängten angeblich nicht beeinflussen können. Dazu zählen einerseits Migranten, andererseits die «böse politische Elite». Gerade gegenüber Migrant:innen findet eine rassistische und menschenverachtende Unterscheidung statt zwischen «primitiv» und «zivilisiert», «überlegen» und «unterlegen».

Gegenseitige Abhängigkeit ist wichtig für die Bewältigung der Klimakrise

Je mehr Menschen sich von der offenen Gesellschaft abgehängt fühlen, desto mehr suchen sie nach einfachen Lösungen und Antworten. Desto mehr grenzen sie sich auch ab gegenüber Menschen, die nicht von hier sind.

Wollen wir dies und letztlich eine weitere Spaltung der liberalen Gesellschaften verhindern, müssen wir Fürsorglichkeit und Verantwortung wieder vermehrt ins Zentrum stellen und dafür sorgen, dass Selbstverwirklichung und Individualismus – als zentrale Errungenschaften einer offenen Gesellschaft – neben Gemeinschaft koexistieren kann.

Unsere Gegenwart stuft Individualismus und Unabhängigkeit höher ein als gegenseitige Abhängigkeit und Fürsorge. Gerade in Bezug auf die drohende ökologische Krise ist Fürsorglichkeit und Gemeinschaft aber wichtiger denn je für deren Bewältigung.

Individualismus schafft nicht nur Abgrenzung gegenüber anderen Menschen – Männlichkeit vs Weiblichkeit oder reich vs arm – sondern auch gegenüber der Umwelt im Allgemeinen. Dies zeigt sich an der Ausbeutung von natürlichen Ressourcen oder einer geringen Wertschätzung Tieren gegenüber.

Weniger Individualismus, dafür mehr Gemeinschaft würde auch dazu führen, dass wir Menschen bemerken würden, dass wir letztendlich alle auf dem selben «Raumschiff Erde» mit 100’000 Kilometer pro Stunde um die Sonne durch das All düsen. Es würde uns bewusst werden, dass wir alle die gleichen ökologischen Probleme und sozialen Bedürfnisse nach Schutz und Sicherheit haben.

Dieses Verständnis erfordert einen Gesinnungswandel und ein neues Erleben der Welt. In dieser neuen Welt gibt es natürlich nach wie vor Individualismus und Selbstverwirklichung. Aber ein Individualismus, der andere Menschen mitzieht, teilhaben lässt und sie unterstützt. Neben Selbstverwirklichung stünden auch Solidarität und gemeinsames Erleben im Mittelpunkt. Aber auch ein gemeinsamens (globales) Verständnis im Umgang mit Natur und Ressourcen stünden im Vordergrund.

Es wäre eine Welt mit weniger Wettbewerb, dafür mit mehr Einigkeit, Verbundenheit, Gemeinsamkeit, Einheit, Gleichartigkeit oder Zusammengehörigkeit. Gerade hinsichtlich der Bewältigung der ökologischen Klimakrise sind solche Eigenschaften auf globaler und regionaler Ebene dringend nötig.

Es wird Zeit, gemeinsam an dieser Welt zu arbeiten.

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