Vigilantismus: Wenn Terroristen im Namen des «Volkes» morden

Die Demokratie am Galgen. Das Capitol am Mittwoch, 6. Januar 2021, während des Sturms durch rechte Aufrührer:innen. Foto: getty/twitter
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Die Bilder von der Stürmung des Capitols in Washington sind verstörend. Die Aufrührer sind Leute, die mit allen Mitteln den Machterhalt von Donald Trump sichern wollen. Sie geben vor, «die alte Ordnung» aufrecht zu halten und den Staat zu «schützen». Solche angebliche «Beschützer des Volkes» gibt es auch in Europa. Sie reichen von Rechtsextremen, Verschwörungsideologien bis Querdenkern. Sie alle eint Vigilantismus, ein Akt von Selbstjustiz.

2020/2021 ist die dunkelste Hollywood-Dystopie Realität geworden. Im Weissen Haus sitzt ein Mann mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, der seine Wahlniederlage nicht anerkennt, weil «Verlieren» in seiner gestörten Persönlichkeitsstruktur nicht vorgesehen ist. «Ich habe nie gelernt zu verlieren», erklärte der noch junge Donald Trump selbstsicher bereits 1988 in einem TV-Interview mit Oprah Winfrey.

Wie stark ausgeprägt dieses Persönlichkeitsmerkmal bei Trump ist, zeigt das seit November ablaufende Drama. In seiner Welt ist es schlicht unmöglich, die Wahl gegen Joe Biden verloren zu haben. In seiner Realität ist er nicht Verlierer der Wahl, sondern Opfer, dem die Wahl «gestohlen» wurde. Jetzt inszeniert er sich auch noch als Opfer einer «Cancel Culture», weil Big Tech ihm seinen Lautspecher abgestellt hat.

Ein Grossteil der 74 Millionen Amerikaner:innen, die Trump im November ihre Stimme gegeben haben, glaubt nach wie vor an diese Lüge, die ihr Anführer seit Wochen ununterbrochen wiederholt. Tausende, wenn nicht sogar Hunderttausende von ihnen sind sogar bereit, den Machterhalt Trumps mit aller Gewalt zu verteidigen. Die Stürmung des Capitols von letzter Woche war der bisherige Höhepunkt an Gewalt und Aufruhr seiner «loyalsten» Anhänger:innen.

Mit Trump als Präsident haben White Supremacists, Nationalisten, Rechtsextreme, Patriotinnen, Antisemiten, QAnon-Anhänger und andere Verschwörungsideologinnen seit 2016 einen Mann auf ihrer Seite, der ihre rassistischen, nationalistischen und menschenverachtenden Ideologien und Gedanken legitimiert. Diese Legitimation sehen sie durch die «gestohlene Wahl» nun bedroht.

«Naturgegebenes» Recht auf Selbstjustiz

Sollte Trump nicht mehr im Weissen Haus sein, sehen sie ihre privilegierten «Rechte» als Weisse Vorherrschaft durch Linke, Liberale, Afroamerikaner:innen, Homosexuelle und Progressive bedroht. Trump hat mehrmals wiederholt, dass die USA untergehen würden, wenn das Ruder den Demokraten überlassen werde. «Save America» ist sein aktueller Slogan.

Als Bedrohung in ihrem Selbstbild nehmen diese Kreise auch die zunehmende Pluralisierung und Öffnung der Gesellschaft, aber auch Black Lives Matters-Proteste oder mehr Rechte für Homosexuelle und Afroamerikaner:innen wahr.

Der angebliche Verlust der «alten Ordnung» will Trumps-Schattenarmee mit allen Mittel «verteidigen». Wenn nötig, ist «Recht und Ordnung» auch mit Gewalt und durch Selbstjustiz durchzusetzen. Gewalt, die am vergangenen Mittwoch mit fünf Toten geendet hat, darunter ein Polizist.

Das Gefährliche an diesen demokratiefeindlichen Akteuren ist, dass sie tatsächlich glauben, sie handelten im Namen und im Interesse des gesamten amerikanischen «Volkes». Zum «Volk» gehört, wer weiss ist und in den USA geboren wurde. Gewalt wie im Capitol muss aus dieser Perspektive nicht gerechtfertigt werden, weil sie eine «naturgegebene» Massnahme ist, um das «weisse Volk» zu beschützen und dieses vor dem herbeigeredeten gesellschaftlichen Kollaps zu retten.

Zu Selbstjustiz greifen sie, weil sie den Staat für unfähig halten, «ihre» Rechte durchzusetzen. Selbstjustiz ersetzt gewissermassen die «fehlende» Autorität des Staates, der nicht in der Lage ist, für «Recht und Ordnung» zu sorgen. Wenn der Staat versagt und das «Volk» nicht «beschützen» kann, muss diese staatliche Pflicht eben in einer Art Bürgerwehr selbst in die Hand genommen werden. Selbstjustiz unter dem Vorwand im «Namen des Volkes» zu handeln, nennt man Vigilantismus.

Angebliche Überlegenheit spricht «den Anderen» Menschenrechte ab

Vigilantismus richtet sich in der Regel nicht primär gegen den Staat, sondern ist vielmehr eine Frage, wer den Staat repräsentiert. Mit Trump an der Macht ist der Staat für diese Leute schliesslich ganz okay. Vigilantismus richtet sich eigentlich viel mehr gegen bestimmte Gruppen von Menschen, die die bestehende Ordnung angeblich bedrohen. Es sind Minderheiten wie Migranten, Homosexuelle, Journalist:innen, Schwarze, Demokraten, Linke, Liberale…

Die angebliche «Überlegenheit» der weissen Amerikaneri:innen hat Trump in den vergangenen Jahren gebetsmühlenartig immer wieder wiederholt, ähnlich wie Hitler ab den 1920er-Jahren einen deutschen Überlegenheitsanspruch proklamierte. Trump glaubt allen Ernstes, er sei etwas Besonderes, jemand, der über dem Gesetz stehe und dem niemand etwas anhaben könne.

Sogar das aktuell laufende zweite Impeachment gegen ihn, betrachtet er als «zero risk» für seine Macht. Dieses Überlegenheitsdenken hat sich bei Trump und seinen Anhänger:innen in eine Art Wahn gesteigert. Selbst als der Mob im und vor dem Capitol wütete, sendete Trump seinen Anhängern via Video einen «lieben Gruss» aus dem Weissen Haus und gab ihnen zu verstehen, sie seien etwas Besonderes. «You’re very special.»

«Besonders» sein kann nur, wer glaubt, anders oder besser zu sein und sich von anderen abgrenzt. Wer sich selbst als «besonders» wahrnimmt, spricht anderen Menschen die gleichen Merkmale und Rechte ab und sagt im selben Atemzug, nicht alle Menschen sind gleich.

Der Ort der Geburt sowie die weisse Hautfarbe machen diese Leute zu selbsternannten «Helden», die glauben, «exklusive weisse Rechte» für sich in Anspruch nehmen zu können, während sie Menschen mit dunkler Hautfarbe oder arabischen Namen diese Rechte absprechen.

«Dies ist unser Land, dies ist unser Haus», sagten mehrere der Aufrührer selbstbewusst in die Kameras, während sie in das Gebäude stürmen. Auch die unverfrorene Selbstdarstellung auf Fotos und Videos und Live-Streams in sozialen Medien zeigt, wie legitimiert sie ihren Vigilantismus selbst betrachten. Legitimiert durch einen faschistisch veranlagten Präsidenten.

So wenig Öffentlichkeit wie möglich für menschenverachtende Ideologien

Vigilantismus im «Namen des Volkes» gibt es auch in Europa: Seit Monaten marschieren Rechtsextreme, Querdenker, Esoteriker und andere Verschwörungsideologien zusammen Seite an Seite durch Berlin, Zürich, Wien, Paris, London oder Madrid. Mit Reichsflaggen und Hakenkreuzen «protestieren» sie gegen die angebliche «Corona-Diktatur» oder den «Impf-Wahn». Aus ihrer Sicht ist es ein Kampf im «Namen des Volkes», weil «das Volk» vor der herbei fantasieren Diktatur «beschützt» werden soll.

Im vergangenen August wollte eine Gruppe von etwa 300 bis 400 Menschen sogar das Reichstagsgebäude in Berlin stürmen. Polizist:innen konnten sie an der Treppe zum Eingang davon abhalten. Zahlreiche Medien haben den Begriff «Sturm auf den Reichstag» mit dem im Internet aufgerufen wurde, kritiklos übernommen, grösstenteils ohne Anführungszeichen.

Medien und Polizeibehörden sollten auch in Europa – auch in der Schweiz – endlich aufwachen und verstehen, dass diese Leute nicht wie «gewöhnliche» Bürger:innen behandelt werden sollten. Washington kann auch in Berlin, Bern oder Paris passieren. Die Ereignisse dürften diese Szene(n) weltweit inspiriert und aufgeweckt haben. Zu verlieren haben diese Leute nichts, jetzt wo Trumps Tage gezählt sind, sowieso nicht mehr. Das macht sie umso gefährlicher.

Die Feinde der offenen Gesellschaft haben mit ihren queren und menschenfeindlichen Ansichten nicht dieselbe Aufmerksamkeit und Sendezeit in Medien verdient, wie demokratische und liberale Anliegen. Diese Leute sind, was sie sind: Antidemokraten, die eine völlig verstörende Vorstellung von gesellschaftlichem Zusammenleben haben, das sich mit einer offenen Kultur nicht vereinbaren lässt. Das einzige was sie verdienen ist Ignoranz.

Die derzeitigen Ereignisse in den USA machen deutlich, dass diese Leute mit allen mitteln bekämpft und nicht toleriert werden dürfen. Diesmal im Namen einer offenen, freien und demokratischen Gesellschaft.


Hollywood als falsch verstandenes Vorbild

Was derzeit in den USA abläuft, erinnert an einen dystopischen Science Fiction Film. Einige der Terroristen des Anschlags auf die US-Demokratie haben sich in einer Art Cosplay als Helden verkleidet, beispielsweise der QAnaon-Schamane mit Fell und Hörnern. Der Bezug zu Hollywood-Superhelden kommt nicht von ungefähr. In zahlreichen Filmen (Batman, Game of Thrones oder Civil War) sind es Outlaws und andere unverfrorene Einzelfiguren, die in einem angeblichen untergehenden Staat für «Recht und Ordnung» sorgen.

Es sind Figuren, die im Namen des Volkes Selbstjustiz verüben, um damit den angeblichen Kollaps der Gesellschaft zu verhindern. Die Faschisten im Capitol haben die Filme wohl falsch verstanden. Hinterfragt Hollywood doch in allen Filmen die Legitimität von Selbstjustiz.

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