Die Weltbank und andere Organisationen erzählern seit etwa fünf Jahren ständig, extreme Armut verschwinde auf der Welt immer mehr. Bis 2030 soll sie sogar ganz verschwunden sein. Ein Bericht des scheidenden UNO-Sonderberichterstatters für extreme Armut, des New Yorkers Philip Alston, zeigt nun erstmals, dass die Zahlen womöglich geschönt wurden, um rasche Erfolge gegenüber der Uno und ihren Milleniumszielen zu präsentieren.
Dank des Kapitalismus würden immer weniger Menschen in Armut leben: Solche Schlagzeilen und Aussagen hat man in den vergangenen Jahren immer öfters gelesen. Beispielsweise hat sich der venezolanische Ökonom Ricardo Hausmann 2015 darüber aufgeregt, dass dem «Kapitalismus heutzutage für viele Dinge die Schuld gegeben wird: Armut, Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, sogar die globale Erwärmung». Dies sei ungerecht, da der Kapitalismus «auch Tausende aus der Armut geholt und sie wohlhabender gemacht hat». «Die Welt hat enorme Fortschritte bei der Verringerung der extremen Armut gemacht», erklärte die Weltbank in ihrem Bericht «Armut und geteilter Wohlstand 2018».
Im Sommer hat der scheidende UNO-Sonderberichterstatter für extreme Armut, Philip Alston, einen bemerkenswerten Bericht veröffentlicht. Darin sagt er, dass die Fakten der Weltbankberichte falsch dargestellt worden seien. Die Berichte würden sogar den weltweiten Zustand der Armut verharmlosen. Alson glaubt, dass Hunderte Millionen Menschen in Armut in der Statistik nicht berücksichtigt worden sind. Im Gegensatz zur Behauptung, die Armut würde sinken, habe sie in Wahrheit in den vergangenen Jahren zugenommen.
Im Jahr 2000 legte die UNO acht Millenniums-Entwicklungsziele fest, die bis 2015 erreicht werden sollen. Die Halbierung der Zahl der Menschen in extremer Armut war das erste Ziel. Laut Alston dienten die Zahlen der Weltbank dazu, «ein positives Ergebnis zu garantieren und es den Vereinten Nationen, der Weltbank und vielen Kommentatoren zu ermöglichen, einen Erfolg zu verkünden». Die Weltbank habe vorsätzlich die wahren Zahlen der Armut verschleiert, so Alston.
Erstmals Daten über Armut zu sammeln begann die Weltbank vor rund 40 Jahren. Aus dieser Zeit stammt auch die Idee, dass Menschen die mit einem Dollar am Tag leben müssen, als extrem arm gelten. Diese Ein-Dollar-Angabe zeigt jedoch nicht, wie viel Geld ein Menschen eigentlich zum Leben braucht. Die Angabe definiert nur, wieviel Geld Menschen zur Verfügung haben. Etwas später wurde der Wert auf 1.90 Dollar erhöht.
2017 schlug der Wirtschaftswissenschaftler Robert Allen in einem unabhängigen Bericht vor, dass die Weltbank die Armut stattdessen auf der Grundlage der Ressourcen messen sollte, die für den Kauf der Grundbedürfnisse des Lebensunterhalts benötigt werden. Theoretisch würde dies dazu führen, dass die Bank erneut arme Menschen in Thailand, der Türkei und Rumänien anerkennen würde.In diesen Ländern gibt es laut Weltbank keine Armut mehr, zumindest niemand, der mit 1.90 Dollar am Tag überleben muss.
Seit dieser Kritik hat die Weltbank die extreme Armutsgrenze aufgeteilt. Extreme Armut in 1.90 Dollar am Tag und Armut in Ländern mit mittlerem Einkommen auf 3.20 Dollar und 5.50 Dollar am Tag erhöht.
Gemäss dem Alston-Bericht liegt der Anteil der Weltbevölkerung, der in Armut lebt, nicht bei zehn Prozent, sondern eher bei 50 Prozent. Nicht nur extreme Armut ist Armut, auch wer mit zehn oder Dollar am Tag lebt, fällt aus der Statistik. Ausserdem ist auch arm, wer in einer «reichen» Gesellschaft lebt, sich aber ein Sozialleben nicht leisten kann.
Der amerikanische Wirtschaftsanthropologe Jason Hickel argumentiert, dass die globale Armutsgrenze etwa viermal höher sei als das derzeit festgelegte Niveau. Nur mit einer Erhöhung könne das Problem ernsthaft angegeben werden. Berücksichtigt werden müsse auch der Zugang zu Nahrung, der Gesundheitsversorgung oder Wohnsituation.
Armut ist nur nur ein Mangel an Geld, sondern auch ein Mangel an materiellen wie immateriellen Gütern, wie Nahrung, Wasser, Gesundheit, Bildung oder soziale Kontakte. Solche Werte fehlen in den Statistiken der Weltbank.
Extreme Armut bedeutet auch Hunger. Noch immer. Laut einer aktuellen Studie der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) ist die Zahl der unterernährten Menschen seit 1990 zwar um 160 Millionen zurückgegangen. Gleichzeitig bezeichnet die FAO 2018 rund 1.9 Milliarden Menschen als unterernährt.
Armut ist nicht nur ein Phänomen von Ländern in Afrika oder Südamerika. Auch in den USA und Europa gibt es Menschen, die im Abfall nach Flaschen sammeln oder Barfuss unterwegs sind. Alleine in den USA haben laut dem U.S. Census Bureau etwa 30 Millionen Amerikaner nicht genug zu essen.
Auch in Deutschland und der Schweiz sind immer mehr Menschen auf Sozialhilfe angewiesen oder suchen ihr Essen im Abfall von anderen Leuten. Auch wenn es in Europa kaum Menschen gibt, die mit einem oder zwei Euro am Tage leben, verbringen doch viele von ihnen ein Leben am Abgrund und in unwürdigen Zuständen.
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