Die Coronakrise bietet die Chance, die Infrastrukturen in urbanen Zentren dem 21. Jahrhundert endlich anzupassen. Mehr Platz für Fussgänger und Radfahrer. Weniger Platz für Auto. Heutige Städte erlebten in den vergangenen 200 Jahren zwei infrastrukturelle Revolutionen. Zuerst kamen die sanitären Einrichtungen und die Elektrizität, in einem zweiten Schritt die Autobahnen und Flughäfen. Jetzt ist es Zeit für die dritte Revolution hin zu einer grünen Stadt. – Philipp Bürkler
Durch den coronabedingten weltweiten Lockdown entdecken die Menschen wieder die Langsamkeit im Verkehr. Die ETH Zürich hat mit einer Tracking-App sogar berechnet, dass ihre 3’700 Probanden im März und April in der Schweiz im Durchschnitt 1.8 Kilometer mit dem Velo zurückgelegt haben gegenüber noch 680 Metern im vergangenen Herbst.
Während den vergangenen Wochen ist auch der Autoverkehr auf den Strassen sowie die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel spürbar zurückgegangen. Die Coronakrise schafft ein völlig neues Erlebnis und eine neue Wahrnehmung des öffentlichen Raums. Andere Länder und Städte haben nun bereits ihr Verkehrskonzept kurzfristig angepasst.
Spontane Projekte bereits in mehreren europäischen Grossstädten
In Berlin wurden in den vergangenen Tagen kurzerhand Fahrspuren für Auto in Radwege umgewandelt. In nur zehn Tagen hat der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg das geschafft, was vorher jahrzehntelang unmöglich schien. Breitere und vor allem sichere Fahrradwege. Die Massnahme gilt zwar als «temporär» während der Krise. Es ist aber schwer vorstellbar, dass die Radfahrer diesen Raum in einigen Monaten wieder den Autofahrern überlassen werden.
Auch in Mailand hat die Stadtverwaltung vor einigen Tagen beschlossen, über den Sommer 35 Kilometer Strassen für Radfahrer umzugestalten. Dem britischen Guardian sagte der stellvertretende Bürgermeister von Mailand, Marco Granelli: «Natürlich wollen wir die Wirtschaft wieder öffnen, aber wir sind der Meinung, dass wir dies auf einer anderen Grundlage als bisher tun sollten.»
In Grossbritannien hat das Seebad Brighton im Süden des Landes die Strandpromenade, den Madeira Drive, zwischen 8 Uhr morgens und 20 Uhr abends für Fussgänger und Radfahrer geöffnet.
Und in der Schweiz? Bisher sind noch keine solchen Projekte bekannt. Beim VCS, dem Verkehrsclub der Schweiz, wartet man noch immer auf die Antwort des Bundesrates für die vor zwei Jahren eingereichte Velo-Offensive mit der mehr und sichere Radwege gefordert werden. Der Bundesrat müsste schon längstens eine Antwort liefern, heisst es beim VCS auf Anfrage. Die Coronasituation sei wohl dazwischen gekommen.
Während andere Länder und Städte die Coronakrise nutzen, um Nägel mit Köpfen machen, wird in der Schweiz abgewartet. Dabei wäre die aktuelle Krise der richtige Zeitpunkt, verkehrspolitisch eine dritte infrastrukturelle Revolution einzuläuten. Mehr Infrastruktur für Fussgänger und Radfahrer, mehr Parks und öffentliche Plätze und den Ausbau von Ladestationen für Elektro-Mobile.
Eine kleine Geschichte der Infrastruktur in Städten
Städte und Agglomerationen, wie wir sie heute kennen, haben in den vergangenen knapp 200 Jahren zwei Wellen von Infrastrukturschüben erlebt. Bis zum Beginn der industriellen Revolution vor rund 200 Jahren beschränkten sich städtische Infrastrukturen vor allem auf Strassen, Marktplätze, Kirchen und Stadtmauern. Die Erfindung der Dampfmaschine hat erstmals in der Menschheitsgeschichte die körperliche Arbeitskraft von Menschen, Eseln und Pferden durch eine Maschine ersetzt.
Durch die zunehmende Bedeutung der Dampfmaschine im 19. Jahrhundert entstanden in den damals noch kleinen Städten und Dörfern erste Fabriken. Arme hungernde Bauern und Handwerker zogen vom Land in die Städte, um in den Fabriken zu meist menschenunwürdigen Bedingungen zu arbeiten. Die sogenannte Landflucht trug teilweise massiv zum Wachstum der Städte bei.
Lebten in London um 1800 noch knapp 1.8 Millionen Menschen, waren es 80 Jahre später bereits mehr als sieben Millionen. Auch Berlin erlebte im 19. Jahrhundert ein enormes Bevökerungswachstum. 1845 lebten in Berlin etwa 400’000 Einwohner, 60 Jahre später, 1905, waren es bereits mehr als zwei Millionen.
Während Europa die Bevölkerungsexplosion vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte, setzte die Entwicklung in den USA ab den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts ein. In nur zehn Jahren zwischen 1890 und 1900 verdoppelte sich beispielsweise die Einwohnerzahl von New York auf mehr als drei Millionen. 1930 lebten bereits sieben Millionen Menschen in der Grosstadt an der Ostküste der USA.
Die erste Welle von städtischen Infrastrukturen entstand weltweit ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Menschen in London, New York oder Paris lebten unter schmutzigen und überfüllten Bedingungen. Krankheiten und Seuchen wie Cholera waren weit verbreitet, da die Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser hatten.
Mit der sogenannten Sanitärbewegung setzte vor anderthalb Jahrunderten eine Hygienekultur aus Ärzten und Fachleuten ein, die das Leben der von Seuchen und Krankheiten geplagten Menschen in den Städten verbessern wollten. Das Ergebnis war der Bau von Kanalisationen und Wasserleitungen.
Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs wurden vor allem Verkehrsinfrastrukturen im grossen Stil aufgegleist. U-Bahnen, Schienennetze, Strassen, Kanalisationen oder die Elektrifizierung: Alle diese bis heute bestehenden Infrastrukturen entstanden in dieser Zeit.
Zweite Welle nach dem Zweiten Weltkrieg
Die Jahrhundertwende war das Zeitalter der Erleuchtung und des Fortschritts. Während sich Frankreich 1889 zum 100. Jahrestag seiner Revolution den Eiffelturm zur Weltausstellung schenkte, wurde mit der Weltausstellung im Jahr 1900 das Zeitalter der Elektrizität eingeläutet. Erstmals waren weite Teile der Stadt und der Ausstellungs-Pavillons elektrisch beleuchtet.
Eine zweite Welle von Infrastrukturen entstand nach dem Zweiten Weltkrieg. Es war die Phase des Wiederaufbaus und Aufbruchs. Die von Henry Ford in den 1930er-Jahren verfeinerte Fliessbandtechnik ermöglichte ab den 1950er-Jahren auch in Europa die Massenproduktion. Der gleichzeitige Wirtschaftsaufschwung ermöglichte es jedem Bürger, ein eigenes Auto zu kaufen. Die von Hitler und seinen Nationalsozialisten bereits begonnenen Autobahnen wurden nach dem Krieg weiterentwickelt und das Netz weiter ausgebaut. Zu den Autobahnen kamen weitere Infrastrukturen wie Tankstellen und Raststätten hinzu. Auch Flughäfen sind damals wie Pilze aus dem Boden geschossen.
Während die erste Welle an Infrastrukturen vor etwa 120 Jahren das Zeitalter der Elektrizität einläutete, begann mit der zweiten Phase ab etwa 1945 auch das Zeitalter der Massennutzung von Erdöl. Ohne den relativ einfach herzustellenden und billig verfügbaren Rohstoff Erdöl wäre das Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahre undenkbar gewesen.
Auto und Flugzeuge in der heutigen Form wären nicht möglich. Gleichzeitig hat der Rohstoff Erdöl sowie das damals beginende exzessive Konsumverhalten die Welt in jene Lage gebracht, in der sie heute ist. Eine Lage, die immer ungesünder wird für Mensch und Umwelt.
Jetzt, 2020, ist es an der Zeit, die dritte Welle im Infrastrukturbau zu starten. Es braucht nun Infrastrukturen, die der Nachhaltigkeit und der Klimaerwärmung gerecht werden. Es braucht mehr Radwege, Fussgängerzonen und Plätze, auf denen sich Menschen treffen können.
Auch sollten wir vom Begriff «Smart City» wegkommen. Dieser Begriff impliziert, dass bei zukünftigen Stadtformen vorallem Technologie die Probleme lösen wird. Wir müssen dafür sorgen, dass Städte eben keine Technokratien werden, in denen Überwachung und Kontrolle dominieren. In gewissem Sinne sind Städte bereits heute technokratisch organisiert, wenn man die Dominanz des Autos als Beispiel nimmt.
Die Städte müssen wieder den Menschen gehören und als offene und kreative Räume begriffen werden. Die aktuelle Entwicklung in einigen Städten mit der Umfunktionierung von Fahrbahnen für Radfahrer läuft nun zum Glück in die richtige Richtung. Aber es braucht noch mehr. Es braucht eine breite gesellschaftliche Diskussion über künftige Infrastrukturen.
Gerade für die Schweiz wäre auch eine Art unterirdische Metro immer noch eine komfortable Lösung, um die rund acht Millionen Menschen in der «Grossstadt Schweiz» von A(arau) nach B(asel) zu bewegen.
Wir dürfen vor allem nicht mehr den Fehler machen, den die Menschen im 19. und 20. Jahrhundert begangen haben. Damals wurden Strassen und Schienen einfach dort gebaut, wo es Platz hatte. Ohne Rücksicht und Gedanken an künftige Generationen, die mit den Infrastrukturen leben müssen. Also wir heute sowie die kommenden Generationen.
Die damaligen Überlegungen haben unsere Welt geformt, wie kein anderes Ereignis zuvor. Die Schienen und Autobahnen entstanden auf der grünen Wiese und erst im Nachhinein passten wir unsere Welt diesen Infrastrukturen an. Ein paar wenige Generationan haben damals also die Welt für die kommenden Jahrhunderte geformt. Leider nicht immer zum Vorteil der Menschen. Es ist Zeit, dies zu ändern.
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