In Krisenzeiten sind Kreativität und kreatives Denken gefordert. An den Grund- und Sekundarschulen allerdings wird kreatives Denken nur spärlich gefördert. Im Berufsalltag ist es oft völlig unbekannt. Könnte die Coronakrise zu einem Umdenken führen, hin zu einer Welt mit mehr Kreativität? Ist das Virus vielleicht sogar eine Chance fürs Kreativsein? Paolo Bianchi, Kreativitätsforscher und Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK, äussert sich dazu im Interview. – Von Philipp Bürkler
Resetter: Paolo Bianchi, wie wichtig ist Kreativität für Kinder und Jugendliche? Gerade jetzt, wo es keinen Präsenzunterricht in Schulen mehr gibt und die Kinder zuhause bleiben müssen?
Paolo Bianchi: Wenn es gelingt, parallel zum Erledigen der Schulaufgaben, Kinder und Jugendliche in einen Prozess des Spielens zu bringen, ist das ein kreativer Akt. Das Spiel oder das Spielen ist prototypisch für den Vorgang der Erkenntnis. Kinder lernen im Kindergarten weniger durch die Vermittlung über die herkömmliche Beschäftigungspädagogik als vielmehr im freien, ungezwungenen Spiel. «Ich halte das Spiel für das Universale», schrieb der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott. In vielen Familien haben Kinder und Jugendliche oft ein festgelegtes Programm zu absolvieren: Musikstunden, Sportkurse, Spielnachmittage. Neueste Forschungen zeigen, dass ein Zuviel an organisierter Aktivität das kindliche Gehirn negativ belasten kann.
Kinder und Jugendliche – eigentlich auch Erwachsene – befinden sich also in einem starren Korsett, das ihre Kreativität hemmt statt zu fördern, verstehe ich das richtig?
Ja, genau. Der bekannte Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget meinte: «Alles, was wir die Kinder lehren, können sie nicht mehr selbst entdecken und damit wirklich lernen.» Als Kreativitätsforscher fordere ich für Kinder die Ermöglichung zum freien Spielen in der belebten Natur. Dort wird ihre Neugierde und Explorationslust geweckt. Es ist überhaupt nicht ungewöhnlich, wenn man heutzutage von einem Siebenjährigen den Satz hört: «Ich bin zum ersten Mal im Wald.» Vielleicht mag uns das erstaunen. Doch Studien machen es deutlich: Die Generation unserer Grosseltern verbrachte noch 75 Prozent der Freizeit in der freien Natur, jene der Eltern 55 Prozent und jene unserer Kinder nur noch 25 Prozent. Es gilt auch festzuhalten, dass Kinder und Jugendliche, die ihre freie Zeit zum Teil für einen Aufenthalt im Wald nutzen können, einen grösseren Zugang zu kreativen Lösungen haben als Kinder, denen das verwehrt ist und die nur ihre Schulzimmer kennen. Man weiss heute, Neugierde ist die Voraussetzung zum gelingenden Lernen.
Während der Coronakrise sind die Kinder aber gezwungen, mehr oder weniger zu Hause zu bleiben, gemeinsam mit ihren Eltern.
Die entscheidende Frage ist, wie dieses Daheimbleiben gestaltet wird und ob es mit anderen Aktivitäten ergänzt wird: ein Bewohnen von selbst gebauten Hütten, ein Durchstreifen von Wäldern und Wiesen, ein Werkeln mit Hammer und Säge, ein Entdecken von bislang Unbekanntem und Geheimnisvollem – auch das Gamen an der Playstation. Oder ganz einfach nur Spazierengehen. Für nicht wenige Kinder durchaus ungewöhnlich. Jedenfalls sollten Eltern den zumeist schlummernden Forschergeist ihrer Kinder behutsam aktivieren und anspornen.
Wenn ich vermehrt Eltern mit ihren Kindern durch die Wälder gehen sehe, erlebe ich das als eine positive Entwicklung. Das «Waldbaden» mit allen Sinnen liegt zum Glück im Trend. Es spricht nichts dagegen, dass Erwachsene auch alleine unterwegs sein können, so wie einst Robert Walser, der grosse promeneur solitaire der Schweizer Literatur. Die aktuelle Krise bietet die Chance, die Natur für sich wieder zu entdecken. Man entkommt nicht nur der Enge der eigenen vier Wände, sondern die eigene Gedankenwelt lässt sich so wieder neu ordnen. Für den Philosophen Friedrich Nietzsche haben nur die «ergangenen» Gedanken einen Wert. Er notierte: «Glauben Sie nicht an irgendeine Idee, die nicht an der frischen Luft und aus der freien Bewegung geboren wurde.» Wenn das offizielle Gebot der Stunde «Bleibt zuhause!» lautet, dann empfiehlt es sich gerade in solchen Zeiten des Stillstandes in körperlicher Bewegung zu bleiben: die wohltuende Wirkung eines längeren Spazierganges soll man auf gar keinen Fall unterschätzen. Der Effekt ist grösser als man das vorher erwartet hätte.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Es wird von Eltern erzählt, dass ihre Kinder zurzeit nicht wüssten, was sie machen sollen. Das ist nicht verwunderlich, denn Jugendliche haben kaum die Möglichkeit zu lernen, wie sie ihre Freizeit gestalten könnten. Wer den Kindern den Zugang zur «offenen Welt der Natur» verwehrt, entzieht ihnen wichtige Erfahrungen, sowohl körperlich wie auch geistig. Auf Bäume klettern muss man selbst. Wer nicht spielen darf, bleibt in der Entwicklung, was Kreativität und Konzentrationsfähigkeit betrifft, eingeschränkt. Diese Kinder sind weniger gut imstande, Pläne zu schmieden und umzusetzen. Wird das kreative Spiel der Kinder von Eltern, Kitas und Schule gefördert, dann, so der einhellige Tenor der Entwicklungspädagogen, führt das zu einer gesunden Entwicklung in allen wichtigen Bereichen – kognitiv, emotional, sozial, kreativ und motorisch.
Fachleute und Politiker haben Bedenken, dass die Schüler den durch das Coronavirus verpassten Schulstoff nicht mehr aufholen können. Ist diese Sorge berechtigt?
Natürlich geht es beim schulischen Lernen um die Bewältigung des vorgegebenen Stoffes, aber eben auch darum, für eine Freude am Lernen Sorge zu tragen. Lust und eine innere Vitalität sind Schlüssel zum erfolgreichen und nachhaltigen Lernen. Das versorgt das Nervensystem mit Dopamin, dem Glücksbotenstoff im Gehirn. Unser Gehirn ist imstande, sich immer auch an die Emotionen im Prozess des Lernens zu erinnern. Wurde das Lernen als lustvoll empfunden, erinnern wir uns nicht nur gerne an diese Zeit zurück, sondern haben das Gelernte viel mehr auch präsent. Mussten wir unter Angst einen Stoff auswendig lernen, verdrängt unser Gehirn die Gedanken an diese Zeit und auch der Lerninhalt verflüchtigt sich. Das heisst in der Konsequenz, die Form des spielerischen Lernens verbunden mit dem Moment des Spasses, ist die beste Fördermassnahme für Kinder und Jugendliche. Albert Einstein hat das sehr schön formuliert: «Kreativität ist Intelligenz, die Spass macht.» Hier lässt sich anfügen: Spielen ist Lernen.
Wie wichtig ist Kollaboration und das Verwirklichen von gemeinsamen Projekten für Kinder und Jugendliche?
Als Kreativitätsforscher unterscheide ich zwischen drei Arten von kreativem Tun: der individuell-gestaltenden Kreation von etwas, der interdisziplinär-erkundenden Ko-Kreation mit anderen und dem sozial-sinnstiftendem Kreativsein innerhalb einer Learning Community. An der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK verwenden wir den Begriff «Creationship», der alle drei Felder miteinander verknüpft. «Creationship» als integrale Form der Kreativität versetzt uns in einen Zustand von Verbundenheit und Sympathie für einander. Mein Credo lautet: Creationship vermittelt die nötigen Denkwerkzeuge, um das Raumschiff Erde und seine Passagiere in eine nachhaltigere, innovativere und menschenwürdige Zukunft zu lenken.
Wenn Kinder und Jugendliche im gemeinsamen Spiel zu einer zwanglosen und ungewissen Betätigung finden können, dann erschaffen sie damit eine Phantasiewelt, in der sich ihre Denk- und Handlungsfreiheit vergrössert. Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass Kinder a priori nicht gewillt sind, Routinen, Gewohnheiten und einschränkende Verhaltensmuster als gegeben hinzunehmen. Wenn es uns Erwachsenen gelingt, wieder wie Kinder zu staunen, dann widersetzen wir uns der Vergeudung des Lebens.
Für die Wirtschaft ist Kreativität seit Jahren eine Anforderung, um erfolgreich im Beruf zu sein. Gleichzeitig wird Kreativität an Schulen wenig gefördert. Das ist doch ein Widerspruch.
Ja. Das Problem ist, dass von der Kita über den Kindergarten bis in die Grundschulen ein anderes Programm gefahren wird, eines das rein auf die MINT-Fächer fokussiert (Anmerk. Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik). Es zwingt Kinder in die Sekundarschule, dann zur Maturität und letztlich zu einem Uni-Abschluss. Dies alles führt derzeit in der Bildungslandschaft dazu, dass sich das schulische Bildungsangebot zunehmend auf die Verwertbarkeit von Handlungswissen für das künftige Berufsleben konzentriert und Fächer wie Musik oder Kunst zunehmend den MINT-Angeboten in der Schule weichen müssen. Das Ziel ist eindeutig das, die Kinder über die Lerninhalte als Erwachsene für den Arbeitsmarkt verfügbar zu machen.
Ich denke aber, es wird langsam ein Umdenken erkennbar. In den PISA-Tests geht es primär um das Messen des Bildungsgrades. Aber auch das künstlerische oder kreative Lernen an Schulen sollte eine Rolle spielen. Doch wie soll das gemessen werden? Wer nach einer Antwort für einen Ausweg aus dem Spannungsfeld MINT versus Kunst- und Musikunterricht für ein Leben als Erwachsener sucht, kann eine Zeile aus dem Song «No Surrender» des US-Musikers Bruce Springsteen nachklingen lassen: «We learned more from a three-minute record than we ever did at school.»
Woran erkennen Sie, dass es zu einem Umdenken kommt?
Es zeigt sich daran, dass unser Kreativitäts-Coaching an der ZHdK nicht allein von Künstlern, Designer und Musikern besucht wird, sondern vor allem auch von Akademikern. Etwa von einer Chemikerin, Mikrobiologin oder Soziologin oder von Berufsleuten aus den Feldern der Kommunikation, Bildung und dem Kaufmännischen. Sie alle wollen erfahren, was es heisst, innovativ zu sein oder welche Methoden ihnen helfen, aus Routine und Konvention auszubrechen. Unser Creationship-Programm an der ZHdK verführt die Teilnehmenden dazu, sich der eigenen oder kollektiven Kreativität zu öffnen, was bedeutet, ein unbekanntes Haus zu betreten, ähnlich wie bei Alice im Wunderland, die dem weissen Hasen folgt. Von einem Staunen à la Alice erfasst zu sein, bedeutet, sich einen Zugang zu neuen Erfahrungsräumen zu verschaffen.
Wie könnte Kreativität im Arbeitsleben zugunsten von Leistung und Druck gestärkt werden?
Kreatives Denken, respektive Querdenken kann in der Wirtschaft nur dann gedeihen, wenn eine Offenheit für Abweichungen, für Ungeplantes und Zufälliges zugelassen wird. Zufallsergebnisse wie etwa die Realisierung der antibiotischen Wirkung von Penicillin oder die Tatsache, wie aus einem vorgesehenen Herzmedikament Viagra wurde. Der Bedarf an Querdenkern wird steigen. Sie bringen frischen Wind und stossen Entwicklungen an. Abgesehen von Firmen wie Google und Apple, die von Innovationen leben und ausdrücklich nach Querdenkern suchen, entscheidet ansonsten in den meisten Fällen immer noch der Zufall, ob eine querdenkende Person in ein Unternehmen oder in eine Organisation kommt – und ob sie sich dort entfalten kann.
Kinder dürfen nicht zwecklos Spielen und Erwachsene fallen im Arbeitsleben in abstrakte Muster?
Ja, vieles ist abstrakt und muss objektiv sein, hat damit aber auch wenig mit einen selbst zu tun. Das Subjektive und Emotionale bleibt aussen vor. In ihren Berufen und Disziplinen müssen die Menschen Antworten auf Probleme liefern. Wenn solche Leute zu uns an die ZHdK in eine «Creationship»-Weiterbildung kommen, ist es genau umgekehrt. Wir konzentrieren uns konsequent auf Lösungen, anstatt Probleme lösen zu wollen. Pointiert lässt sich sagen, dass man das Problem nicht kennen muss, um es zu lösen. Das Problem hat mit der Lösung nicht unbedingt etwas zu tun und die Lösung nicht unbedingt mit dem Problem. Mit Übungen sollen die Teilnehmer begreifen, dass das Suchen nach möglichen Ursachen oder auch nur ein Lamentieren über ein Problem nicht weiterhilft. Wir vermitteln Methoden, dass die Leute es selbst in der Hand haben, zum Lösungs-Coach zu werden. Dieses Bewusstmachen der eigenen Ressourcen ist von enormer Antriebskraft und fördert die Motivation. Dieser Prozess ist für viele ungewohnt. Sie erwarten klare Antworten, werden jedoch auf ein unbekanntes und unsicheres Terrain begleitend geführt.
Könnte die aktuelle Coronakrise eine Chance sein für mehr Kreativität in Schule und Beruf?
Viele Menschen befinden sich wegen der Coronakrise in einem Angstmodus. Angst vor Arbeitsverlust, vor dem Wegfall an sozialen Kontakten, Furcht vor Vereinsamung. Diese Phänomene verstärken den Leistungsdruck in einer bereits schon adrenalingetriebenen Gesellschaft. Ängste und Bedrohungen hemmen jedoch die Kreativität und Spontanität. Die Frage ist, ob der Adrenalinlevel nach der Krise wieder reduziert werden kann. Der Zukunftsforscher Matthias Horx spricht davon, dass wir alle das Gefühl der geglückten Angstüberwindung kennen, etwa vor und nach dem Besuch beim Zahnarzt. Davor steigern wir uns in Ängste hinein, nach überstandener Behandlung sind wir plötzlich voller Tatendrang. «Neurobiologisch wird dabei das Angst-Adrenalin durch Dopamin ersetzt, eine Art körpereigener Zukunfts-Droge.» Horx skizziert ein Szenario, dass nach der Coronakrise zu dieser Erfahrung führen könnte: «Aus einem massiven Kontrollverlust erwächst plötzlich ein regelrechter Rausch des Positiven. Wenn wir einen gesunden Dopamin-Spiegel haben, schmieden wir Pläne, haben Visionen, die uns in die vorausschauende Handlung bringen.» Nicht die Krise selbst, erst deren gelingende Auflösung kann Herausforderung und Chance zugleich sein für mehr Kreativität und Freiheit. Der Künstler Joseph Beuys sprach davon, dass die Formung der Gesellschaft ein originär kreativer Freiheitsakt sei, eine Kunstforum und wir alle werden, indem wir a priori an der Formung beteiligt sind, zu Künstlern.
Also mehr Dopamin und weniger Adrenalin?
Das klingt zwar nach simplen Schlagworten, doch wichtig ist zu erkennen, dass die emotionale Verfasstheit unsere gesamte Existenz einfärbt. Der von Horx beschriebene Rausch des Positiven ist eine innere Kraft. Das Dopamin, das gerade in kreativen Prozessen ausströmt, öffnet die Hirnsynapsen. Wir nehmen Informationen auf wie ein Schwamm. Wir gewinnen an der Fähigkeit zum Staunen, lernen uns selbst anders kennen und begegnen der Welt auf eine andere Weise. Daher kann die Zeit nach Corona zu einem Wendepunk werden. Die Frage ist, ob es zu einer geglückten Angstüberwindung kommen wird, dabei die Dopamin-Kurve steigt und ein Zwischenraum sich öffnet für Neugierde, Entdeckerfreude und die Lust an einer authentischen Kommunikation miteinander. Der «Beat Generation»-Schriftsteller William S. Burroughs behauptete: «Language is a virus from outer space», also bereits die Sprache, das erste Kommunikationsmedium, ist ein Virus. Es beginnt mit ganz einfachen alltäglichen Erfahrungen, wie ein nachbarschaftliches Gespräch über den Gartenzaun hinweg oder sinnenoffene Spaziergänge in der Natur. Man beginnt im Kleinen, dazu braucht es keine grossen Kunst- oder Kultur-Postulate. Es genügt zu staunen. Einzig ein staunender Blick erkennt das Unerwartbare im Erwartbaren, das Rebellische in der Ordnung, das Aussergewöhnliche im Gewöhnlichen.
Paolo Bianchi ist Kulturpublizist und Kreativitätsforscher. Als Hochschuldozent an der Zürcher Hochschule der Künste ist er Gründungsleiter des Weiterbildungsprogramms CAS in Creationship, wo es um Angewandtes Querdenken und Kreativitäts-Coaching geht.
Letzte Veröffentlichung als Gastherausgeber für das KUNSTFORUM International in
Köln: Ressource Kreativität 2017; Vom Sinn der Kunst 2018; Staunen. Plädoyer für eine existenzielle Erlebensform 2019: Die Kunst des Gehens 2020.
Vielen herzlichen Dank für diesen wertvollen und ermutigenden Artikel. Gerade in der aktuellen Situation sollten wir kreative Kräfte stärken. Teilt das doch bitte mit allen, die gerade Homeschooling betreiben und helft, dass unsere Kinder und Jugendlichen kleine Momente des Staunens erleben können und sich nach wie vor als Gestalter*innen ihrer Welt erfahren dürfen.
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