Krisen, Krisen, Krisen: Klimakrise, Demokratiekrise, Wirtschaftskrise oder Coronakrise. Die Vorstellung darüber, was eine Krise ist, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend verändert. Bis vor 100 Jahren herrschte sogar eine Krisenbegeisterung.
Es ist ein Experiment, das Sie selber durchführen können, wenn Sie das nächste Mal Zeitung oder einen Online-Text lesen. Notieren oder markieren Sie alle Krisenbegriffe, die Ihnen beim Lesen begegnen, auf ein Blatt Papier. Klimakrise, Demokratiekrise, Wirtschaftskrise, Coronakrise, Regierungskrise, Immobilienkrise, Umweltkrise, Eurokrise und so weiter und so fort. Meine Liste umfasst mittlerweile mehr als 200 Krisenbegriffe.
Gewöhnlich fallen uns Krisenbegriffe beim Lesen oder beim Schauen von Nachrichtensendungen gar nicht mehr auf, weil immer irgendwo eine Krise ist. Wir haben uns längst an Krisen und ihre Häufigkeit gewöhnt. Wir befinden uns sozusagen in einer multidimensionalen Dauerkrise für die es scheinbar keine einfache Lösung gibt.
Dennoch lösen Krisen bei den meisten Menschen Angst und Unsicherheit aus, weil sie sich ihrer persönlichen Kontrolle entziehen Auch die Politik scheint oft mit adäquaten Lösungen auf wirtschaftliche, soziale und ökologische Herausforderungen überfordert zu sein.
Nicht immer haben Menschen Krisen mit Unsicherheit und Bedrohung in Verbindung gebracht. Der Krisenbegriff, wie wir ihn heute kennen, ist relativ neu. Vor nicht allzu langer Zeit, lösten Krisen nämlich Begeisterung und Euphorie aus. Krise war etwas Positives.
Der Begriff Krise stammt ursprünglich aus dem Griechischen (Krisis / κρίσις) und bedeutet so viel wie Scheidung oder Entscheidung. Gebräuchlich war der Krisenbegriff seit der Antike vor allem in der Medizin, womit der Zustand von Krankheiten beschrieben wurde. Krise war jener Moment, in dem nicht klar war, ob sich eine Krankheit bessert oder verschlechtert. Genesung oder Tod.
Erst im 17. Jahrhundert wurde der Begriff Krise in die Politik und dann allmählich in die Wirtschaft, Psychologie und Gesellschaft eingeführt. Der Staat und seine gesellschaftliche Organisation wurde als Analogie zum menschlichen Körper betrachtet.
Durch Aufklärung und Französische Revolution hat sich das zeitliche Empfinden der Menschen geändert. Leideten die Menschen in früheren Jahrhunderten unter einer Erntekrise, deuteten sie dies als Gottes Strafe. In der religiös geprägten Welt war Zukunft per Definition geschlossen und lag ausschliesslich in Gottes Gnaden. Nun war Zukunft auf einmal offen und gestaltbar. Die Menschen haben begriffen, dass Krisen nicht einfach so in der Welt sind oder von Gott geleitet werden, sondern, dass sie selbst Einfluss auf die Ereignisse haben.
Fast gleichzeitig taucht auch der Begriff Gegenwart erstmals auf. Die Menschen erkannten, dass sie mit ihrem Handeln die Zukunft beeinflussen konnten. Sie hatten es nun selbst in der Hand, ob die Zukunft gut oder schlecht wird. Die Französische Revolution war in diesem Sinne nicht nur eine Krise, sondern die Entscheidung zwischen zwei möglichen Zukünften: Eine Zukunft mit Königen und ohne Mitsprache, oder eine Zukunft ohne Könige und mit Mitsprache.
Seit der Französischen Revolution wurden Krisen deshalb als turbulente Übergangsphasen in eine «bessere» Zukunft verstanden. Krisen, so die damalige Idee, sind gesellschaftliche Beschleuniger, in deren Folge sich die Menschheit auf einer höheren Entwicklungsstufe befinden soll. Gesellschaftlich, technologisch oder demokratiepolitisch.
Krise bedeutete aktives Handeln. Da während einer Krise noch keine Entscheidung gefallen ist, wie die Welt danach aussieht, sie also ein offener Prozess ist, war es in der damaligen Auffassung zwingend zu handeln und die Zukunft positiv zu verändern.
Eine Krise bot also zwei Möglichkeiten. Entweder in die Katastrophe laufen und in einer «schlechteren» Zukunft leben, oder die Zukunft positiv gestalten. Dies war einer der Gründe, weshalb im 19. Jahrhundert utopische Gesellschaftsvorstellungen florierten. Mit einer Utopie sollte eine bewusste Alternative zum bestehenden Gesellschaftsmodell geschaffen werden. Je grösser die Utopie, desto grösser war die Krise und desto dringlicher war es zu handeln und die Zukunft zu gestalten.
Krisen waren noch bis ins 20. Jahrhundert etwas Positives. Sogar noch in den 1920er-Jahre herrschte eine regelrechte Krisenbegeisterung. Wer in den 1920ern gesellschaftliche Veränderung wollte, nutzte den Krisenbegriff zur Gegenwartsanalyse. So auch Bertolt Brecht und Walter Benjamin, die einen Artikel mit «Begrüssung der Krise» betitelt haben. Die Gegenwart wurde zur Krise erklärt, der mit einer Zukunftsutopie begegnet wurde.
Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges wurden Krisen zunehmend nicht mehr als etwas Isoliertes wahrgenommen, sondern als etwas Übergeordnetes. Weltkrise, Systemkrise, Gesellschaftskrise. Demokratiefeindliche NS-Ideologen vereinnahmten den Krisenbegriff für sich und sahen in der jungen Weimarer Republik eine Krise des «Gesamtsystems Weimar».
Durch den Börsencrash 1929 und der aufkommenden Bedrohung des Nationalsozialismus wurden Krisen ab den 1930er-Jahren erstmals auch als globale Dimension wahrgenommen. Und spätestens nach der Ohnmachtserfahrung des Zweiten Weltkriegs erhielt der Krisenbegriff eine völlig neue Bedeutung. Krise war nun nicht mehr etwas, das durch eine Utopie positiv beeinflusst werden konnte, sondern etwas, das die Welt verschlechtert. Krisen befanden sich nun zunehmend ausserhalb des politischen Handlungsspielraums.
Seit rund 50 Jahren wird der Begriff Krise in seiner heutigen Bedeutung verwendet. Nach der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges waren es vor allem die zunehmenden ökologischen Krisen ab den frühen Siebziger Jahren, die dem Begriff Konnotationen wie Unsicherheit, Bedrohung oder Katastrophe beifügten.
Spätestens jetzt waren die Krisen global. Erstmals wurde vor 50 Jahren von Umweltkrisen, Industriekrisen oder Entwicklungskrisen gesprochen. Obwohl bereits die Weltwirtschaftskrise 1929 global war, übersteigen die Krisen seit den 1970er-Jahren die Handlungsfähigkeit einzelner Regionen und Regierungen. Die Krisen der vergangenen 50 Jahre – die nun in der Klima- und Coronakrise ihre Höhepunkte erreicht hat – können nicht mehr von einzelnen Akteuren gelöst werden, sondern benötigen eine globale Herangehensweise.
Es war auch die Zeit, als internationale Organisationen wie das WEF Davos 1971 oder der Weltwirtschaftsgipfel 1975 ins Leben gerufen wurden. Mit allen Mitteln wurde versucht, die Probleme nun global anzugehen. Gleichzeitig stellte sich immer mehr die Frage, wer denn eigentlich für die globalen Krisen verantwortlich ist?
Durch die mit Ronald Reagan und Margaret Thatcher in den frühen Achtziger-Jahren einsetzende neoliberale Auffassung, der Staat solle sich bei der Problembewältigung heraushalten und lediglich für Recht und Ordnung sorgen, verschärften sich die Umweltkrisen seither sogar noch deutlich.
Spätestens jetzt mit der Klima- und Coronakrise sehen wir, dass die Welt an einem Wendepunkt ist. Im Unterschied zu früher, mangelt es uns heute aber an Utopien. Auch die Politik ist zusehends überfordert, die globalen Probleme zu bewältigen und Antworten zu finden, weil sie mit ihren Gesetzen der technologischen Entwicklung, die zu einem grossen Teil für die Umweltprobleme verantwortlich ist, hinterherhinkt.
Ein weiteres Problem ist die Zeit. Um die ökologischen Krisen zu bewältigen läuft uns die Zeit davon. Wir sind heute zwar aufgeklärter und zukunftsoffener wie niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte, dennoch fällt es uns schwer, Krisen zu bewältigen und uns eine «bessere» Zukunft vorzustellen. Durch die Häufigkeit der Verwendung der Krisenbegriffe in den Medien sind wir mittlerweile auch abgestumpft, dass wir vielleicht gar nicht mehr begreifen, in welcher Krise wir uns tatsächlich befinden.