Degrowth-Day: Kleine Geschichte des Wachstums

Die Globalisierung des Warenverkehrs als Treiber von Wachstum. Hafen Hamburg. Bild: phb
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Wirtschaftswachstum ist für viele Menschen so normal, wie der Sonnenaufgang. In weiten Teilen der Gesellschaft besteht ein regelrechter Wachstums-Fetisch. Wachstum gilt als einzige Option für Fortschritt. Immer mehr, immer höher, immer wieter ist das Mantra. Woher kommt eigentlich dieser in den Menschen tief verankerte Glaube an Wachstum? Ein kleine Geschichte des Wachstums zum morgigen internationalen Degrowth-Day.

Der Kapitalismus leidet. Er liegt auf der Intensivstation. Auf einen Virus wie Corona war er nicht vorbereitet. Der Kapitalismus ist ausgelegt auf Wachstum, nicht auf Stillstand. Auf- und Vorwärts ist die Devise. Ein Zurück auf ein tieferes Level mit weniger Wachstum ist in diesem System nicht vorgesehen. Im Gegenteil, es gilt als Systemfehler.

Woher kommt eigentlich dieser Wunsch nach Wachstum? Nach Mehr? Woher kommt der fast schon religiöse Wahn nach Vermehrung von Vermögen, Macht, Einfluss, der Ausweitung eines Staatsgebietes, Geld anzuhäufen oder der Wunsch nach mehr materiellen Gütern?

Bis vor rund 10’000 Jahren waren wir Menschen Jäger und Sammler. Nomaden. Wir zogen umher und lebten von dem, was wir an Nahrungsmitteln erbeuten konnten. Kühlschränke, Luxusuhren, beheizte Häuser oder grosszügige Grundstücke kannten wir noch nicht. Ausser einigen Schmuckstücken aus Knochen und Steinen hatten wir praktisch keinen Besitz.

Das «Sammeln» von materiellen Gütern entstand, nachdem wir sesshaft wurden und uns erste permanente Siedlungen aufbauten. Es war die Zeit der neolithischen Revolution in der wir die Landwirtschaft erfunden haben. Ein Prozess der nicht von heute auf morgen stattgefunden hatte, sondern über Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende dauerte.

Machtverlust der römisch-katholischen Kirche

Es war die Zeit, als Handel entstand und die Bauern begonnen hatten, Land zu bewirtschaften. Dieses Land war die Urform von Besitz, auch wenn es in Wirklichkeit einem Herrscher gehörte, der in seinem Refugium Reichtum und Güter anhäufte.

Einige Zeit später wurde das Geld als Tauschmittel erfunden und Gold zu einem kostbaren Besitz. Mit der heutigen Form von Wachstum hatte das allerdings noch nichts zu tun. Diese Vorstellung entwickelte sich erst im ausgehenden Mittelalter, als sich langsam erste kapitalistische Strukturen zu etablieren begannen.

Diese wurden möglich, als nach der Reformation die katholische Kirche zunehmend an Macht einbüsste. Während die Kirche in Rom über Jahrhunderte das Streben nach Macht und Erfolg als etwas widernatürliches predigte, brachten die Reformatoren einen Kurswechsel.

Laut der Theorie des Soziologen Max Weber war vor allem die calvinistische Erwerbsethik Auslöser dieser frühen Entwicklung nach Wachstum. Die Anhänger der streng religiösen Sekte der Calvinisten glaubten an die Prädestinantionslehre. Wer in diese Zeit geboren wurde, wusste nicht, ob er oder sie nach dem Tod in den Himmel oder in die Hölle kam.

Diese Menschen lebten in ständigem Zweifel und in Angst, Gott zu enttäuschen. Wer allerdings faul und erfolglos im Leben war, konnte sicher sein, nach dem Tod in der Hölle zu schmoren. Daran gab es keinen Zweifel.

Wer allerdings erfolgreich war und es zu Reichtum brachte, hatte gute Karten, vom Herrgott nach dem Tod an der Himmelspforte empfangen zu werden. 100 prozentig sicher konnten sich aber auch die Erfolgreichen nicht sein. Deshalb mussten auch sie sich ständig anstrengen und dafür sorgen, noch erfolgreicher zu werden, als sie es bereits waren.

Überlegenheitsanspruch der weissen Europäer

Fast parallel entdeckten Seefahrer weit entfernte Kontinente und brachten mit ihren Schiffen Güter wie Tee, Kartoffeln oder Zucker nach Europa, was wiederum den Handel ankurbelte und so allmählich die kapitalistischen Strukturen festigte.

Die europäischen Seefahrer brachten nicht nur Güter nach Europa, sondern sie besetzten die entdeckten Kontinente und beuteten die dort lebenden indigenen Völker aus oder schleppten mit Schiffen Sklaven aus Afrika als Arbeitskräfte in die «neue Welt». Es war der Beginn des «Überlegenheitsdenkens» der weissen Rasse. Die europäischen Eroberer fühlten sich mächtiger als die Menschen der Urvölker.

Die Europäer fingen an, das entdeckte Land und die Menschen zu quantifizieren. Es war der Beginn der Datenerhebung und Statistik. Die Kolonialherren überlegten sich, was sie mit dem «neu» entdeckten Land machen könnten, und wieviel Ertrag Landwirtschaft und Anbau für sie bringen würde.

Europa begann, Reichtum auf Kosten von fremden Völkern anzuhäufen. Es war der Beginn des Profit- und Ertragsdenken sowie der Ökonomisierung von Mensch und Natur.

Die Natur als profitable Geldmaschine

Die Natur und die Menschen der indigenen Völker wurden ab Mitte des 17. Jahrhunderts als Mittel zur Optimierung und Gewinnmaximierung der weissen Europäer gesehen. Der englische Ökonomen und Erfinder der Statistik, William Petty, der bereits damals die Grundlage des heutigen Bruttoinlandproduktes legte, beschrieb die Natur als eine «Maschine», deren Ressourcen zu noch mehr Reichtum führen sollten.

Der Machthunger der Kolonialherren unterdrückte Völker, die zuvor über Jahrtausende isoliert gelebt hatten, und zwang sie durch die Vorherrschaft der Weissen in das Korsett des Rassismus‘. Weil sie dunkle Hautfarbe hatten, galten sie als primitiv und unterentwickelt.

Eine Haltung, die bis heute in Teilen der weissen Gesellschaft aufrecht erhalten wird, wie die aktuellen Proteste in den USA aufgrund des Mordes an George Floyd und Polizeigewalt bitter deutlich machen.

Die weissen Europäer verstanden sich als eine überlegene Rasse, die den primitiven Völkern zeigen wollte, wie Zivilisation auszusehen hat.

Ausbeutung während der Industriealisierung

In ökonomischen Schriften der damaligen Zeit wie der «Modernisierungstheorie» oder dem «Entwicklungsprojekt» fanden sich erstmals Begriffe wie Wachstum und Fortschritt. Es setzte sich in Europa allmählich die Überzeugung durch, dass gesellschaftlicher Fortschritt nur möglich sei durch parallelen Anstieg der Einkommen. Wachstum wurde zur Ideologie und oberster Maxime.

Mit der einsetzenden Industriealisierung, der Entdeckung und Förderung grosser Mengen Rohöl und der zunehmenden Spezialisierung in der Produktion, bildete sich im 19. Jahrhundert die neue Klasse der Fabrikbetreiber, die Bourgeoisie.

Es war jene Zeit, als sich Kinder, Frauen und Männer bis zu 14 Stunden am Tag in Fabriken verdingten und ihre Arbeitskraft den Fabrikbesitzern verkaufen mussten, während diese Kapital und Reichtum akkumulierten. Was die Kolonialherren in fernen Kontinenten durch den Einsatz von Indigenen und verschleppten Sklaven aus Afrika erreichten, schaffte in Europa der Bourgeois auf Kosten der armen Bevölkerung, der Arbeiterklasse. Akkumulation von Reichtum und das Generieren von Wachstum bei gleichzeitiger Erzeugung von Armut.

 

Charles Chaplin als Inbegriff der Industriealisierung: Modern Times, 1936.

Obwohl die Arbeiterbewegung stärker, Gewerkschaften gegründet und die Rechte der Arbeiter verbessert wurden, änderte sich bis zum Übergang zum 20. Jahrhundert nicht viel an dieser Entwicklung. Fabrikbesitzer, Unternehmer und Geschäftsleute waren die Gewinner des Wachstums, während gewöhnliche Bürger mit ihrer Arbeitskraft für einen geringen Lohn die Gewinne der Kapitalisten steigerten.

Beendet wurde dieses Spiel mit dem Zusammenbruch der Börse in New York 1929 und der darauf folgenen «Grossen Depression» in den 1930er-Jahren. Viele Unternehmer und Geschäftsleute, Fabrik- und Plantagenbesitzer haben über Nacht ihr gesamtes Vermögen verloren. Um das «System» zu retten, hatte die Wiederherstellung von Wachstum und Wohlstand nach der Weltwirtschaftskrise oberste Priorität.

Der Lift fährt nicht mehr aufwärts für alle Menschen

Dieser Versuch wurde unterbrochen durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939, der die halbe Welt in Schutt und Asche legte. Nach dem Krieg wurden in Europa für den Wiederaufbau riesige Konjunkturprogramme gestartet und die Wirtschaft endgültig Schritt für Schritt auf jenes Wachstumsniveau getrieben, das wir heute kennen.

Wachstum war nun nicht mehr ein Traum, der einer wirtschaftlichen Elite vorbehalten war, sondern dank steigenden Einkommen und serieller Massenproduktion von Gütern, zunehmend Realität für alle Menschen. Von Wachstum profitierten auf einmal alle Schichten der Gesellschaft.

Jeder Bürger sollte sich nun ein eigenens Auto, einen Kühlschrank, eine Musikanlage aus der Massenproduktion leisten können. Wachstum bedeutete ein Mehr an Wohlstand.

Wachstum hing auch stark mit der nach dem Zweiten Weltkrieg beginnenden Spaltung der Welt in Ost und West zusammen. Technologische Innovation in der Rüstung kurbelten – vor allem in den USA – zusätzlich das Wachstum an.

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich die Idee von Wachstum etabliert und mit der praktisch parallelen Einführung des Bruttoinlandprodukts BIP manifestiert. Es war John Maynard Keynes der bereits 1940 empfhal nicht nur Konsum und Investitionen, sondern auch Staatsausgaben mit ins Volkseinkommen einzurechnen.

Das BIP ist bis heute das Mass aller Dinge. Angeblich «gute Neuigkeiten» verkünden News-Moderatoren in Nachrichtensendungen, wenn sie von einem steigendem BIP berichten. Tatsächlich verschleiert dieser Fetisch nach Wachstum das tatsächliche Leid und die ausbeuterischen Prozesse, die oft dahinter stehen.

Wachstum vergrössert das Gefälle zwischen arm und reich

Wer beispielsweise heute in Europa mit Produkten Geld verdient und Wachstum produziert, die in einem Entwicklungsland hergestelt werden, vergisst die dahinter liegende ausbeuterischen Produktionsbedingungen in diesen Ländern. Ein anderes Beispiel ist die Ausbeutung der Ökosysteme und Ressourcen, um für einige wenige Menschen Wachstum zu generieren.

Obwohl immer nur eine Minderheit vom Wachstum profitiert, wird es weithin noch immer als erstrebenswerter Prozess im allgemeinen Interesse dargestellt.

Spätestens seit den 1980er-Jahren stösst unaufhörliches Wachstum mit seinem The-Sky-is-the-Limit-Denken aber seine Grenzen. Heute, knapp 50 Jahre nach dem Club of Rome-Buch «Grenzen des Wachstums», merken immer mehr Menschen, dass kontinuierliches BIP-Wachstum nicht mehr zu zusätzlichem Wohlstand führt, sondern zu einem Kollaps des Ökosystems.

Wachstum zerstört aber nicht nur die Umwelt und macht Menschen wegen schlechter Luft in Städten krank, sonern zementiert zunehmend auch die Machtverhältnisse zwischen arm und reich.

Je länger desto mehr, profitiert nur noch eine kleine Elite von Menschen vom Wachstum. Das Versprechen des Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit, wonach Löhne und Wohlstand auf immer und ewig ansteigen werden, löst sich allmählich in Luft auf. Wachstum – exorbitantes Wachstum -generieren heute nur noch High Networth Individuals, superreiche Menschen. Auf Kosten von Umwelt sowie Gering- und Normalverdiener.

Aufbruch in Postwachstumsgesellschaft

Verstärkt wird diese Tendenz durch Unternehmen, die im kapitalistischen Monopoly gezwungen sind, ständig innovativ zu sein und neue Produkte zu erfinden, die als Life-Style konsumiert werden, um kurze Zeit später im Abfall zu enden und letztlich ebenfalls der Natur schaden.

Es wird höchste Zeit, dass wir uns vom BIP verabschieden und uns daran gewöhnen, dass wir nicht noch mehr Wachstum brauchen. Es wird Zeit, dass wir eine ernsthafte gesellschaftliche Debatte über den Zwang von Wachstum führen und uns über eine Postwachstumsökonomie Gedanken machen. Wie heisst das geflügelte Wort so schön: Less is more.

Morgen Samstag, 6. Juni, ist internationaler Degrowth-Day. An diesem Tag werden weltweit online wie offline, Alternativen zur kapitalistischen Wachstumsgesellschaft aufgezeigt.

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