Mit dem Fahrrad ans Meer: Reisen im Covid-19-Sommer 2020

Eine paar Tage in eine andere Welt abtauchen mit dem Velo durch Norditalien. Selbstportrait. Bild: phb
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Klimakollaps und Covid-19-Pandemie: Wie kann im Sommer 2020 umweltfreundlich und mit physischem Abstand ideal gereist werden? Das Flugzeug ist zu umweltschädlich und unter Covid-19-Bedingungen mühsam. Der Zug ist sinnvoll für weite Strecke mit einem geringen Zeitbudget. Aber stundenlang eine Maske tragen? Warum also nicht mit dem Fahrrad? Und warum nicht gleich mit dem Velo ans Meer? Eine Reise durch Norditalien mit wildem Campen in traumhaften Landschaften und Wohnen in tollen Hotels in schönen Städten. Ein Experiment und Selbstversuch.

Auto und Flugzeug kommen für mich als Verkehrsmittel für Ferien nicht in Frage. Zumindest nicht in diesem Sommer. In Flugzeugen habe ich in der Vergangenheit bereits einen Grossteil meines Lebens verbracht.

Wer das Flugzeug so häufig und gewohnheitsmässig benutzt, wie ein Bus oder Zug, der oder die muss mal ernsthaft über das Reiseverhalten reflektieren. So ist es mir ergangen.

Verreisen mit dem Auto kommt für mich auch nicht in Frage. Ich habe schlichtweg kein Auto.

Bleiben noch drei Möglichkeiten: Zu Fuss, mit dem Zug oder dem Fahrrad. Zu Fuss? Naja, ich könnte natürlich einfach in eine Himmelsrichtung drauf los marschieren und wäre wahrscheinlich nach ein paar Wochen oder Monaten irgendwo an einem fernen Ort. Aber soviel Zeit habe ich nicht. Mein Zeitbudget beträgt dieses Jahr rund 14 Tage.

Reisen ohne Covid-19-Restriktionen

Mit dem Zug? Das wäre eine Option. Wobei ich dann nur in einzelne Städte fahren könnte. Meine Reise würde sich also auf einen oder mehrere Städtetrips beschränken. Unterwegs könnte ich zwar spannende Bücher lesen, mich im Speisewagen mit Bier voll trinken und über die vorbeiziehende Landschaften sinnieren. Aber mehr Abenteuer würde mir der Zug nicht bringen.

Der Zug ist ideal, um beispielsweise nach Berlin, Mailand oder Paris zu fahren, anstatt zu fliegen. Aber zwei Wochen mit dem Zug herumreisen? Gerade jetzt, auch noch stundenlang eine Maske tragen? Beschlagene Brillengläser würden das Lesen verunmöglichen. Also, nein.

Warum also nicht mit dem Fahrrad? Das Velo, scheint mir in Zeiten einer Pandemie ein geeignetes Verkehrsmittel zu sein. Man ist an der frischen Luft, es ist umweltfreundlich und eine Anti-Covid-19-Maske ist auch nicht nötig.

Ausserdem kann man damit relativ einfach grössere Distanzen überwinden. Mit dem Rad bin ich zeitlich unabhängig und nicht auf Fahrpläne angewiesen und ich kann anhalten, wann und wo ich will.

600 Kilometer von Lugano ans Mittelmeer mit dem Zweirad

Anfang Juli habe mich spontan dazu entschlossen, mit dem Fahrrad von der Schweiz aus ans Meer zu fahren. Mit dem Velo ans Meer, das schien mir ein Abenteuer zu sein und genau das Richtige für den Sommer unter den Covid-19-Restriktionen und Risiken.

Schon drei Tage nach der Idee gings los. Meine erste Etappe führte mich von Lugano nach Como und dann weiter nach Mailand. Die norditalienische Millionen-Metropole erlebte ich als sehr fahrradfreundlich. Während meines zweitägigen Aufenthalts erkundigte ich mit dem Velo kreuz und quer praktisch die ganze Stadt. Von einem Strassencafe zum nächsten Restaurant, weiter zu einem Park oder dem künstlichen Kanal Naviglio Grande entlang.

Der 50 Kilometer lange künstliche Kanal Naviglio Grande hat früher sogar das Tessin in der Schweiz mit Mailand als Schiffsroute verbunden. Bild: phb

Bisher kannte ich die Velotauglichkeit nur in Schweizer Städten, sowie in Berlin und New York City. Im Vergleich zu Berlin und New York ist Radfahren in Mailand jedoch geradezu eine Freude. (Ich habe bereits gestern ausführlich über das Raderlebnis in Mailand berichtet.)

Wildes campieren an Flüssen unter dem Sternenhimmel

Nachdem ich Mailand nach zwei Tagen verlassen hatte, bin ich weitergefahren Richtung Süd-Osten über Lodi bis kurz vor Cremona. Nach zwei Nächten in einem tollen Hotelzimmer in Mailand mit Balkon und Aussicht auf den Bosco Verticale – dem vertikalen Wald von Stefano Boeri – habe ich mich entschieden, die kommenden drei Nächte unter freiem Himmel zu schlafen.

Einer der beiden unübersehbaren Bosco Verticale in Mailand. Auch in Lausanne soll ein Baumhaus von Stefano Boeri entstehen. Bild: phb

Obwohl wildes Campieren in Italien eigentlich verboten ist, schien mir das ein Abenteuer zu werden. Als Kontrast zur Grossstadt nun endlich in der menschenleeren Natur. Klare Sternenhimmel und Sonnenuntergänge erwarteten mich.

Die erste Nacht im Freien habe ich bei Crotta d’Adda am Adda verbracht, etwa zehn Kilometer, bevor der Fluss in den Po mündet. Eine traumhaft naturbelassene Gegend.

Idyllische Stimmung als Nachtlager am Fluss Adda. Bild: phb

Am nächsten Morgen bin ich noch vor dem Frühstück 20 Kilometer nach Cremona gefahren. Für etwa acht Euro habe ich dort zwei leckere Espresso getrunken und zwei, drei mit Marmelade gefüllte Croissants gegessen. Ich hatte selten ein so tolles Frühstück.

Nach weiteren 20 Kilometern habe ich in der Nähe der San Daniele-Brücke ein Bad im Po genommen. Die Brücke wirkt surreal, vor allem, als ich sie anschliessend mit dem Velo überquert habe. Normalerweise rasen auf italienischen Strassen die Autos an einem vorbei. Auf dieser etwa 1,5 Kilometer langen Brücke gilt jedoch ein Tempolimit von 30 kmh. Auf der Brücke waren nur drei bis vier Autos, die langsam an mir vorbeizogen.

Die darauffolgende Nacht habe ich in einem riesigen ausgetrockneten Flussbett des Taro in der Nähe von Parma verbracht. Eine riesige Steinwüste mit Wäldern, die bis zum Horizont reichen. Dazwischen der gemütlich mäandernde Taro. Kein Mensch weit und breit.

Der erste Blick nach dem Aufwachen am anderen Morgen. Die Idylle des Flusses Taro. Bild: phb

Am Morgen danach musste ich erstmal im nächstgelegenen Bike Shop einen neuen Reifen kaufen, nachdem er am Abend zuvor geplatzt war. Mit neuem Reifen trete ich weiter über Parma und Reggio Emilia Richtung Modena.

Kurz vor Modena habe ich ein verlassenes Bauernhaus entdeckt, das mir als Bleibe für die folgende Nacht ziemlich komfortabel schien. Geschlafen habe ich im Innenhof, der gegen aussen offen war.

Mein «Hotel» für eine Nacht. Ein verlassenes Bauernhaus in der Nähe von Modena. Bild: phb

Nach drei Nächten im Freien habe ich am Morgen nach dem Aufstehen im Bauernhaus zuerst einmal über mein Smartphone ein schickes Hotel in Bologna gebucht und freute mich schon auf die Dusche. Bologna war das Etappenziel dieses noch jungen Tages.

Bologna, nur schon der Name klingt verheissungsvoll. Ich war noch nie da. Kannte nur den Song von Wanda und ich wusste, dass sich in Bologna die älteste europäische Universität befindet, die als Referenz wiederum namensgebend für die Bologna-Reform ist.

Bologna ist eine der schönsten Städte, die ich in meinem bisherigen Leben gesehen habe. Mittelalterliche Architektur und Arkaden so weit das Auge reicht. Dazu tonnenweise tolle Restaurants und Bars. Eine Studentenstadt eben.

Das Hotelzimmer in Bologna war komfortabel und grosszügig und mitten im Herz der 400’000 Einwohner zählenden Stadt. Aus meinem Fenster hatte ich direkten Blick auf die Kathedrale, die etwa drei Fuss-Minuten vom Hotel entfernt liegt.

Die zwei schiefen Geschlechtertürme von Bologna. Der linke Turm hat eine Neigung von 3.20 Metern, der rechte Turm eine von 2.20 Metern. Bilde: phb

Nach zwei Tagen Bologna, fünf Celati und einem Ausflug auf den 300 Meter hohen Santuario della Madonna di San Luca mit seinen 666 Arkaden auf einer Länge von 3,8 Kilometern später, habe ich mich auf die zweitletzte Etappe Richtung Ravenna am adriatischen Meer aufgemacht.

Es war ein tolles Gefühl, nach etwa 600 Kilometern mit dem Fahrrad, endlich das Meer zu sehen. Ich habe das Rad sofort abgestellt und bin gleich zum Strand gerannt und ins Wasser gesprungen.

Erfahrungen und Abenteuer für wenig Geld

Obwohl ich bereits im August 2019 spontan mit dem Fahrrad von Berlin nach Prag gefahren bin, war diese Reise von Lugano ans Mittelmeer eine neue Erfahrung.

Die Bucht von Rimini. Das Meer hat eine magische Anziehung auf mich. Bild: phb

Einerseits gab sie mir ein neues Gefühl für Distanzen. Mit dem Velo nimmt man Distanzen und die Landschaft völlig anders wahr als mit dem Auto oder dem Zug. Gleichzeitig habe ich die norditalienische Region neu kennengelernt und das alles für verhältnismässig wenig Geld.

Wer nur ans Meer fährt oder fliegt, verpasst alles, was das Land dazwischen zu bieten hat. Ganz zu schweigen vom Reisen mit dem Flugzeug, wo man lediglich einige Stunden in eine Röhre sitzt und am Ankunftsort wieder aussteigt. Ohne Anstrengung, ohne Erlebnis, ohne körperliche Leistung und ohne ein Gefühl für die zurückgelegte Distanz.

Mit Reisen haben Flugzeuge eigentlich nicht viel zu tun. Das Flugzeug beraubt den Reisenden um das eigentlich wirkliche Abenteuer. Die Reise, die Reise als Erlebnis.

Ach ja. Nach einer Nacht in Ravenna bin ich am anderen Morgen noch weitere 70 Kilometer an der adriatischen Küste entlang Richtung Rimini gefahren. Rimini ist besser als sein Ruf, so schien es mir, nachdem ich das letzte mal als Kind in den späten Achtzigerjahren da war. Vielleicht lag es auch an Covid-19, dass es eher wenig Touristen hatte. Umso besser.

In der Altstadt von Rimini hatte ich im geschmacks- und stilvoll eingerichteten Restaurant Due come noi das beste Dinner seit geraumer Zeit. Ich probierte die köstlich zubereiteten und exquisit servierten Spaghetti Carbonara. Dazu ein Glas prickelnden weissen Chardonnay.

Das Restaurant ist ein Erlebnis und war genau das Richtige für den Abschluss meiner Reise.

2 Gedanken zu „Mit dem Fahrrad ans Meer: Reisen im Covid-19-Sommer 2020“

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